Theater:Das ist Quantenmechanik, Baby!

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Alles reine Physik: Sachiko Hara (links), Marie Rosa Tietjen und (unten klein) Sophie Rois als lebende Elementarteilchen im Theaterexperiment von René Pollesch. (Foto: Thomas Aurin)

Teilchenbeschleunigung im Regietheaterlabor: René Pollesch macht "Probleme Probleme Probleme" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.

Von Anton Rainer

Es war nur eine Frage der Zeit, bis René Pollesch auch die letzte große Gewissheit in die Tonne treten würde. Er hat die persönlichen Krisen auserzählt, in tausend Varianten, das Bröckeln der Verhältnisse, die Auflösung des Ichs, den ewigen Niedergang als Fortsetzungsroman, hochkomisch und tieftraurig zugleich. Nun also ist er bei den Naturgesetzen angekommen, der grundsätzlichen Wahrheit, in die die Menschen ihr Urvertrauen legen. Sie blicken auf Zahlen und Fakten, auf Laborkittel und Messgeräte und finden darin Schutzräume der Objektivität. Hier ist alles sicher, hier liegt nichts im Ungefähren, oder?

In "Probleme Probleme Probleme", Polleschs vierter Produktion am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, hat der Ex-Volksbühnen-Regisseur für diese Selbstüberschätzung die passende Abrissbirne gefunden. Hier gelten die Regeln von Zeit und Raum ausnahmsweise nur auf jeder zweiten Seite, sie werden an- und ausgeknipst wie Lichtschalter, während sich die dargebotenen Realitäten fröhlich doppeln, trippeln, exponentiell vervielfachen. Das ist Quantenmechanik, Baby - und es geht nicht um Theater, sondern um ein Experiment. Die Bühne als Versuchsanordnung.

Ein Schirm, eine Lichtkanone, ein doppelter Spalt - mehr brauchte eines der berühmtesten physikalischen Experimente des 20. Jahrhunderts nicht, um die Naturwissenschaften auf den Kopf zu stellen. Im sogenannten "Doppelspaltexperiment", mehr als 100 Jahre alt, lässt sich beweisen, dass Photonen entweder Teilchen und Wellen sind - je nachdem, ob und wie sie beobachtet werden. "Was die Leute nur mit einem machen, wenn sie einen anschauen." René Pollesch hat dieses Experiment für die Bühne übersetzt und in Überlebensgröße reproduziert. Statt eines winzigen Doppelspalts stehen da zwei große Holztore (Bühne: Barbara Steiner), und statt einer Lichtkanone wirft ein Beamer Videoprojektionen auf eine riesige Photonenwand.

Alles leuchtet und blinkt wie auf dem Jahrmarkt. Und die kleinen Teilchen, die selbst unter Laborbedingungen kaum nachweisbar sind, werden von fünf Schauspielerinnen repräsentiert, die zusammen eine Ode auf die Uneindeutigkeit anstimmen. Spielen sie jetzt das "Käthchen von Heilbronn"? Oder doch Shakespeare? "Aber nicht diese Videokacke, oder?" Sie wüssten es so gerne, aber wann immer sie ein Zitat zuordnen können, messen die Geräte schon wieder etwas Neues. Rund um diese unscharfen Relationen erzählt Pollesch eine Geschichte von der Tragik der Fremdwahrnehmung. Der fallende Baum im Wald, der Schauspieler auf der Bühne, der Partner in der Beziehung, der Influencer im sozialen Netzwerk - sie alle müssen gesehen werden, um zu existieren. Zum Schauspielen verdammt, wie das rumhüpfende Elektron. Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem Beobachter nicht gefällt.

Pollesch ist freilich nicht der Erste, der die philosophischen Interferenzen der Quantenmechanik auf die Conditio humana ummünzt. Wenn schon Messinstrumente derart die Realität verändern, schrieb der von der Physik faszinierte Bertolt Brecht in seinem Fragment "Der Messingknauf", "was geschieht erst, wenn Menschen beobachten?" Nun, sie produzieren Kopfschmerzen, in erster Linie, und das merkwürdige Gefühl, irgendwie neben sich zu stehen. Deswegen laufen Sophie Rois und Kolleginnen (wie immer ohne klare Figurenzuordnung) auch ständig ihren Doppelgängern über den Weg, stolpern wie die Liebenden im "Sommernachtstraum" durch einen dichten Urwald, von leichter Amnesie geplagt und auf der verzweifelten Suche nach der eigenen Identität. Sachiko Hara gibt sogar einen ganzen Puck-Monolog - aber auf japanisch und in einer wild rudernden Choreografie von "Whole Lotta Love". Es ist alles klar, aber es stimmt hinten und vorne nicht, eine unendlich verfremdete Realität. Wer hat Angst vor Werner Heisenberg?

"Wir sind doch nicht nur Photonen, die durch Vorhangschlitze schießen?"

Pollesch bedient sich großzügig aus literarischen Vorlagen, zitiert sich auch gerne selbst. Wie in "Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis" finden sich Schauspielerinnen plötzlich in Robin-Hood-Kostümen wieder, vor Wänden aus Glühbirnen und mit vagen Erinnerungen an eine Inszenierung des "Sommernachtstraums". War das nun eine Doppelvorstellung oder nicht? Lief sie Tage, Wochen, gar Monate? Und kam da nicht auch ein Spalt drin vor? Wahnsinnig mühsam könnten all diese Erzählräume sein, nervige Assoziationen im Übermaß, mehr fürs kluge Essay gemacht als für die Bühne. Aber Pollesch kriegt die Kurve, bedient sein spielfreudiges Ensemble mit leichten, über den Dingen schwebenden Dialogen, weil das existenzialistische Leid auch sehr lustig sein kann. So entbrennt plötzlich ein selbstironischer Streit darum, wer denn eigentlich verantwortlich sei für die Krise des deutschen Regietheaters. Die unsäglichen Mikroports an den Backen der Stars? Die nervigen Handkameras, die jeden Schauspieler aufs Klo verfolgen und den Bühnenraum beschatten wie eine gesicherte Grenze? Oder doch die faulen Regisseure, die sich lieber als Knalltüten inszenieren, anstatt ihre verfluchte Arbeit zu machen?

Es ist ein kluger, selbstreferenzieller Abend, in seinen Details nicht fassbar, aber im Umgang mit der eigenen Erkenntnis völlig transparent: Jedes Gegenteil einer großen Wahrheit ist selbst wieder eine große Wahrheit, und nichts ist sicher, außer der ewige Niedergang. Wie tröstlich. "Wir sind doch nicht nur Photonen, die durch Vorhangschlitze schießen?", brüllt die verzweifelte Sophie Rois an einer Stelle. Stimmt, aber immer, wenn man genauer hinschaut, verschwimmen einem die Teilchen vor den Augen.

© SZ vom 08.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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