Theater:Bar aller Paranoia

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Rebekka Kricheldorfs Stück "In der Fremde" spielt in einem Urlaubsparadies am Tresen - Satire am Deutschen Theater in Göttingen.

Von Anna Steinbauer

Der Barmann ist ein Therapeut mit Alkohol. Oder der beste Freund. Manchmal auch beides. Zumindest für Hank, den ersten von mehreren Protagonisten im neuen Stück von Rebekka Kricheldorf, uraufgeführt im Studio des Deutschen Theaters Göttingen. "In der Fremde" heißt es und zeigt nach der Wohlfühlwelt des "Homo empathicus", des letzten Bühnenwerks der Dramatikerin, eine reichlich desillusionierte Version des irdischen Urlaubsparadieses. Regie führt auch diesmal wieder der Göttinger Intendant Erich Sidler.

Ort der Handlung ist eine Bar im südlichen Nirgendwo, in der gestrandete Touristen und Aussteiger ihre Vorstellung von Freiheit und Liebe austauschen. So wie Hank. Hank ist ein Hängengebliebener. Weder alt noch jung, irgendwo zwischen Heimat und Fremde, dem letzten Rausch und dem nächsten Joint, fristet er sein Dasein auf der Suche nach Liebe im ständigen Wechsel von Träumen und Paranoia.

Die Bar ist der eigentliche Protagonist des Abends. Geschmackvoll füllt sie die linke Hälfte des von Gregor Müller schlicht eingerichteten Bühnenraums. Links eine alte Jukebox, rechts ein paar Stühle. Im Hintergrund fällt ein Bambusvorhang wie sanfter Tropenregen herab. Hier hängt der verbitterte Hank (Gabriel von Berlepsch im weißen Leinenanzug) mit anderen Expats ab, säuft und quasselt den Barmann Lester zu. Diesen lässt Rebecca Klingenberg so herrlich heiser röcheln, dass klar ist: Der schenkt Schnaps aus, bis er umfällt. Von seiner Vorliebe für samthäutige Boys und den Vorzügen der Prostitution faselt Hank, doch zwischen den Sätzen spürt man die Sehnsucht nach Nähe. Wenn er einen ausgestopften Ameisenbär an der Leine aus der Bar zieht, mit der Bemerkung, es sei mal wieder an der Zeit, ein Einhorn zu schießen, ist das ein schöner Moment. Hank ist ein verkappter Romantiker.

Vier Schauspieler schlüpfen in die unterschiedlichsten Rollen, aus Lester wird die Barfrau Rosie, der Mann mit der weißen Weste trägt plötzlich Dreadlocks. Geschlechterumkehrung und Geschlechterkampf sind Teil des Spiels in Kricheldorfs bitterer Satire, die teilweise Züge Houellebecq'scher Misanthropie annimmt. Es geht um sexuelle Erfüllung, Orientierungslosigkeit und Alltagsflucht. In der Fremde, fern von zu Hause, ist man auf der Suche nach den verheißungsvollen Versprechen von Süden, Sonne und Sorglosigkeit. Meist weicht die Vorstellung von wilder Exotik jedoch der All-inclusive-Ernüchterung, die Träume enttarnen sich als Paranoia, ausgelöst durch erhöhten Rauschmittelkonsum.

Kricheldorf zeigt, wie sehr sich koloniale Strukturen in unsere Körper eingeschrieben haben, die sich zuweilen als erstaunlich rassistisch und frauenfeindlich entpuppen. Und dass Kapitalismus, Liebe, Konsum nach denselben Mechanismen funktionieren: Jugend und Schönheit gegen Finanzkraft und Sicherheit. Ist Reisen am Ende nur eine Erfindung der Industrie, um die Arbeitskraft der Lohnsklaven zu steigern? Vielleicht muss man tatsächlich ein Einhorn schießen. Die Erde ist jedenfalls kein Paradies.

© SZ vom 25.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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