Politische Unruhen beim Festival in Avignon: Erst waren es Bilder vom Berliner Reichstagsbrand 1933, die groß und bedrohlich über die Fassade des Papstpalastes flackerten - neulich, bei Ivo van Hoves Eröffnungsinszenierung "Die Verdammten" nach dem Film von Luchino Visconti. Wenige Tage später sind auf der Palastfassade Bilder einer Protestversammlung vom 5. Oktober 1995 auf dem Zionsplatz in Jerusalem zu sehen. Israels damaliger Premierminister Jitzchak Rabin wurde dort als SS-Offizier beschimpft und mit dem Tode bedroht. Der israelische Filmautor Amos Gitaï bedient sich dieser Bilder in seiner Film-"Chronik" über die Ermordung Rabins durch einen Rechtsextremisten, die er für Avignon zu einem eindrücklichen Bühnenstück umarbeitete.
Im weiten Spektrum zwischen Kino, Sprechtheater und Performance versteht sich das Festival von Avignon unter der Leitung von Olivier Py als Brennspiegel der Politik - und wurde auf grausige Weise von der Aktualität eingeholt. Staatspräsident François Hollande wollte am Abend des 14. Juli gerade die Aufführung "Die Verdammten" ansehen, als die Nachricht vom Blutbad in Nizza eintraf.
Olivier Py gelang sein Konzept eines politischen Theaters in diesem Jahr überdurchschnittlich gut. Er selbst steuerte - nach seinem fragwürdigen "Lear" im letzten Jahr im Papstpalast - eine minimalistische Inszenierung von Aischylos' "Der gefesselte Prometheus" bei, aufgeführt als Wanderspektakel in Werkhallen, Gemeindesälen und Gefängnishöfen rund um Avignon. Auf einem schlichten Podest spielten da drei Darsteller ohne Kulisse und Schminke die Verbannung des Menschenfreunds Prometheus an die Felswand des Kaukasus. Seiner Eigenübersetzung von Aischylos' Vorlage hat Py anstelle des - verschollenen - Folgestücks "Der befreite Prometheus" einen eigenen Schluss hinzugedichtet. Dem Götterboten Hermes wird vom Chor nahegelegt, sich ernsthaft seiner Aufgabe als Vermittler zwischen dem zürnenden Zeus und den Menschen zu widmen. Wie Prometheus das Feuer und Apollon das Licht könne er, Hermes, den Menschen die Kraft des Wortes überbringen und dem griechischen Polytheismus so zu einer politischen Konsequenz in der Konfrontation der Argumente verhelfen.
Der Wortstreit in unseren Parlamenten und der auf unseren Theaterbühnen gehören zusammen, so lautet die Grundformel von Pys politischem Theater. Mit der Katharsis als Reinigung und Austreibung des Entsetzlichen sei es vorbei, dieses könne nur durch Zuspitzung und offene Auseinandersetzung bewältigt werden. Am radikalsten geschah dies im neuen Stück "¿Qué haré yo con esta espada?" (Was soll ich mit diesem Schwert?) der Spanierin Angélica Liddell. Diese bei Weitem interessanteste Vertreterin des europäischen Übertreibungstheaters - Romeo Castellucci, Rodrigo García - spürt seit der Gründung ihrer Truppe Altra Bilis 1993 auf den Spuren Hölderlins, Nietzsches, Artauds und Georges Batailles den Wurzeln von Gewalt und Grausamkeit in der Ästhetik nach.
Ihr Stück stellt die Pariser Attentate vom letzten November - Liddell probte damals gerade am Pariser Odéon-Theater - der Tat des japanischen Studenten Issei Sagawa gegenüber, der 1981 in Paris seine Freundin tötete und aufaß. Im blumengeschmückten Kreuzgang des ehemaligen Karmeliterklosters von Avignon gedachte die Regisseurin dieser beiden Vorfälle in einem wild exhibitionistischen, schaurig poetischen Ritual mit Musikeinlagen von Purcell bis hin zur Rockband Eagles of Death Metal. Mit Bestürzung und entsetztem Von-sich-Weisen der Bestialität, so die Botschaft der Aufführung, sei es nicht getan. Dem Ungeheuerlichen solcher Akte müsse nachgespürt werden bis hin zur Wurzel ihres Strebens nach Absolutheit auf dem "Trümmerfeld der alten Götter". Vor einem Berg nackter Mädchenkörper liest eine junge Frau Trakls Gedicht "Die tote Kirche" vom müden Pfarrer, der gelangweilt und ohne Glauben die alten Riten nachvollzieht. Ebenso habe die Kunst, die einst das Erbe der Religion antrat, heute ihre Herkunft aus dem Reich der Absolutheitsdiener, der Verrückten und der Verbrecher vergessen, suggeriert Liddell in ihrem Spektakel. Als eine skandalöse Verbrämung von Mord und Terrorismus sah das ein Teil des Publikums und verließ protestierend die Fünf-Stunden-Vorstellung. Der Rest harrte bis drei Uhr morgens aus, angetan von Liddells so erhellender wie bewegender Auslotung unserer Gegenwart.
Entschiedenes Fingerzeigen hinauf in einen entgötterten Himmel gab es auch im Stück "6 a.m. How to disappear completely" der Blitztheatregroup aus Athen - einer bildstarken, aber konfusen Pantomime zum Gedicht "Menons Klage um Diotima" von Hölderlin. Interessant war dennoch die Verpflanzung von Menons Suche nach Weltharmonie aus Hölderlins Naturphilosophie in eine Industrieruinenwelt wie aus Andrei Tarkowskis Film "Stalker". Eine Filmvorlage also auch hier.
Der anhaltende Trend weg vom klassischen Theaterrepertoire hin zur Dramatisierung großer Romane stieß in Avignon indes an seine Grenzen. Julien Gosselins heiß erwartete Zwölf-Stunden-Adaption von Robert Bolaños Schreckensroman "2666" und Jean Bellorinis "Karamasow"-Inszenierung nach Dostojewski enthielten schöne Szenen, gelangten aber zu keinen neuen Aspekten des Werks. Und auch die begabte Regisseurin Bérangère Vantusso konnte mit ihrer Kombination aus lebenden Darstellern und Marionetten im Stück "L'Institut Benjamenta" nach Robert Walsers "Jakob von Gunten" nur effektvoll die seltsam rebellische Unterwürfigkeit der Romanfigur illustrieren.
Der syrische Autor Mohammad al-Attar legt sein Land auf die Intensivstation
Das Festival bot auch Einblick in das Theater der arabischen Welt. Der syrische Autor Mohammad Al Attar, Jahrgang 1980, beschreibt in seinem Stück "Während ich wartete" am Krankenbett eines jungen Mannes im Koma das Verhalten der Angehörigen und Freunde. Der Mann, der einen Film über die Lage Syriens drehen wollte, wurde bewusstlos in seinem Auto gefunden. War es ein Mordversuch? Ein Unfall? Der Regisseur Omar Abusaada hat in seiner Inszenierung dem Bewusstlosen einen Doppelgänger zur Seite gestellt: einen jungen Mann, der in einer anderen Form von Bewusstlosigkeit sich abwechselnd bei den liberalen Regimegegnern, bei den Islamisten, den Kämpfern der Al-Nusra-Front und schließlich beim IS engagiert. Seite an Seite blicken die beiden jungen Männer vom Beobachtungsposten ihrer Bewusstlosigkeit auf die festgefahrene Situation am leeren Krankenbett. Ein ganzes Land liegt gelähmt auf der Intensivstation . . .
Wie falsch bloßes Abwarten auch in Europa ist, zeigte im Echo auf die Eröffnungspremiere an den letzten Festivaltagen das Gastspiel vom Litauischen Nationaltheater mit Thomas Bernhards "Heldenplatz". Der Pole Krystian Lupa hat das Stück dort vor einem Jahr inszeniert. Wie in "Die Verdammten" lügt sich eine Familie den Aufstieg des Faschismus zurecht. Lupa zerdehnt Bernhards bissigen Text im Nachhall auf Hitlers Rede 1938 auf dem Wiener Heldenplatz zu einer faszinierenden Flüsterpartie und fördert unter den Trauergästen nach der Beerdigung des aus dem Fenster gesprungenen Professors Schuster ungeahnte Zusammenhänge zutage. "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen" - dieses Helmut-Schmidt-Zitat eines Trauergastes geht bei Lupa im Massengeschrei auf dem Heldenplatz unter. Selig, wer heute in Europa noch keine Angstvisionen hat.