Theater:Arm in der Oper

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Erstmals inszeniert das für ihre "Experten des Alltags" bekannte Künstlerkollektiv Rimini Protokoll mit den "Europeras 1 & 2" von John Cage ein Musiktheaterstück.

Von Egbert Tholl

Wenige Tage vor der Uraufführung im November 1987 brannte die Frankfurter Oper. Es war, als hätte jemand Pierre Boulez' Schlachtruf vom notwendigen Sprengen der Opernhäuser in die Tat umgesetzt, aber es war Koinzidenz, ein arbeitsloser Emigrant aus der damaligen DDR hatte auf der Suche nach Essbarem das Feuer gelegt. So musste die Oper ihre Zertrümmerung selbst besorgen, ein paar Wochen später kam "Europeras 1 & 2" von John Cage dann doch heraus, im Schauspielhaus nebenan. Cages Idee: 200 Jahre lang habe Europa Amerika seine Opern geschickt, jetzt schickt er sie zurück. In Einzelteilen. Deswegen der Titel, Europa und Oper, und wenn man das auch noch englisch ausspricht, also Youroperas, dann meint es: Eure Opern.

Der Bauplan des Stücks ist komplex. Entweder hat man ein Computerprogramm in Kopf, um ihn zu begreifen. Oder man geht in eine Kneipe und würfelt. Das tat Daniel Wetzel. Nach dem Begreifen. Wetzel inszeniert "Europeras 1 & 2" an der Wuppertaler Oper. Seit Berthold Schneider hier Intendant ist, ist man hier profunde Experimente mit Zeitgenössischem gewohnt, verband man etwa Heiner Goebbels "Surrogate Cities" mit der "Götterdämmerung".

Wetzel ist seit dem Jahr 2000 zusammen mit Helgard Haug und Stefan Kaegi zusammen das Autoren-Regie-Performance-Team Rimini Protokoll. Im Institut für Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen haben sie sich kennengelernt, seitdem arbeiten sie meist unter dem Label Rimini Protokoll. Im Laufe ihrer Arbeit haben sie Schillers "Wallenstein" mit Mannheimer Bürgern aufgeführt, sie haben eine Daimler Hauptversammlung zur Aufführung erhoben, das "Kapital" auf die Bühne gebracht, in vier Teilen Staat erklärt und vor kurzem baute Stefan Kaegi den Schriftsteller Thomas Melle als Roboter für die Münchner Kammerspiele nach.

Eine Szene aus John Cages Antiopern- und Musiktheaterkleinhackspektakel „Europeras 1 & 2“ in Wuppertal, inszeniert von Rimini Protokoll. (Foto: Sergey Mardelo)

Vor allem aber stellten sie immer Menschen auf die Bühne, die für nichts anderes standen als für sich selbst. Kein Theater, keine Rollen, keine Figuren. Die sogenannten "Experten des Alltags" sind das Markenzeichen. Eine der großen Leistungen der Drei ist es, die richtigen Leute aufzutreiben: Waffenhersteller oder südamerikanische Polizisten. Nur bei Neonazis ist Schluss.

Nun macht Wetzel also Oper, die künstlichste Bühnenform der Welt. Wetzel: "Hier ist die Oper selbst der Experte." Ist das eine Kapitulation? Zwar könnte sich Daniel Wetzel vorstellen, auch mal eine Oper wie "Carmen" zu inszenieren und hat schon einmal in Cáracas arbeitslose Opernsänger auf Melodien von Verdi Börsennachrichten singen lassen, aber "Europeras" nimmt ja die Oper bereits immanent auf die Schippe. Cage liebte Pilze, den Zufall und das "I Ging", das chinesische Orakelbuch, das aus 64 Hexagrammen besteht. Und er hatte sich in den Achtziger Jahren gerade einen Mac gekauft. Den fütterte er mit Instrumentalpassagen aus 64 Opern, deren Urheberrecht abgelaufen war. Schon die Auswahl war Zufall, der Computer legte die zeitlichen Abschnitte fest, in denen die Musik erklingen sollte. Dazu kamen, nach dem Zufallsprinzip, Parameter für Licht, Kostüm, Requisite, Maske. Die Arien durften sich die Sänger selbst wählen, nur deren zeitlicher Rahmen erschafft der Computer.

Auch wenn bei der Hauptprobe in Wuppertal manches technisch noch hakt, der klangliche Eindruck ist vollständig. Wetzel dreht die beiden Teile um, bringt erst "Europeras 2" als verhaltene Erinnerung an Oper. Dafür nimmt er den Europa-Gedanken wörtlich. "Cages Gleichzeitigkeit des Unverbundenen hat viel mit Europa zu tun." Tatsächlich passen Musik und Arie nie zusammen, herrscht manchmal Stille, leuchtet ein Spot an eine leere Stelle, steht eine Sängerin im Dunkel. Nun wollte Wetzel Opernhäuser überall in Europa zum Mitmachen animieren, fand aber eine einfachere Lösung. Sie kannten ja genug Sängerinnen und Sänger, die überall in Europa leben. Also würfelte - Wetzel spricht tatsächlich immer von "würfeln" - man die Städte aus, neben dem Baltikum kam viel Südeuropa dabei heraus, das Team reiste in die Städte, filmte Alltag und Straßenszenen und ließ die Künstler singen. "Ach ich fühl's" neben alten Männern im Kafenion, eine Schweinefleisch-Arie in einem libanesischen Lokal. Die Aufnahmen bilden auf 19 Bildschirmen den ersten Teil, es herrscht die Gleichzeitigkeit von Orten, Arien und dazu unpassender Live-Musik.

Die drei Macher von Rimini Protokoll, Daniel Wetzel, Helgard Haug und Stefan Kaegi. (Foto: Foto: David von Becker)

Nur eine Sängerin ist im ersten Teil live vorhanden, Lucia Lucas, die auch würfelt und so verschiedene Prospekte auswählt, die in einem kleinen Marionettentheater abgefilmt und hinter sie projiziert werden. Lucas hätte Cage Freude gemacht, der jedes Stimmfach vertreten haben wollte. Lucas ist ein Bariton auf dem Weg zur Frau. Die Existenz einer Transgenderstimmlage dürfte Cage noch nicht gekannt haben.

Tatsächlich wurmt es Wetzel, dass er den Repräsentationsrahmen im ersten Teil beibehält: auf der Bühne Künstler oder halt deren Bild im Video, im Parkett und den Rängen das Publikum. Ursprünglich wollte er Sänger und Publikum ums Haus scheuchen - im derzeit tief verschneiten Wuppertal keine gute Idee.

Im zweiten Teil stehen zehn Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, suchen sich ihren Platz auf den vorgegebenen 64 Feldern, ziehen sich permanent um, singen mal Schnipsel einer Arie, mal eine ganze. Die 90 Minuten des zweiten Teils sind mehr Zustand als normale Oper, viele der Einzelbilder glaubt man aus anderen Inszenierungen zu kennen. Zufällig. Und das "I Ging" hat dramaturgisches Gespür: Die letzten gesungenen Worte sind die des fliegenden Holländers: "Die Frist ist um."

Wetzel hat sich ins Würfeln und in die schwer zu erschütternde Professionalität der Sänger verliebt. Und in die Beleuchtungsstatisten. Elf von ihnen stehen mit auf der Bühne und erzählen von sich. Da sind sie, die Experten des Alltags. Sie erzählen, dass sie das teilweise seit Jahrzehnten machen. "Hier gibt die Gesellschaft Geld zum Selbstzweck aus. Ich habe mich für die Altersarmut in der Oper entschieden."

© SZ vom 02.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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