Ist das Theater mit Abstandsregeln oder die konsequente Umsetzung eines ziemlich radikalen Regiekonzepts? Beides ist richtig. Johan Simons inszeniert am Schauspielhaus Bochum William Shakespeares "King Lear" und zeigt, dass es möglich ist, ein Kunstwerk zu schaffen, das sich an die herrschenden Hygieneregeln hält. Sein "Lear" zeigt die gnadenlose Vereinzelung unglücklicher, böser, liebevoller und brutaler Menschen.
Vor siebeneinhalb Jahren hat Simons schon einmal den "Lear" inszeniert, an den Münchner Kammerspielen, als er dort Intendant war, so wie er dies jetzt in Bochum ist. Da machte er sehr viel Unfug, verfiel auf den seltsamen Einfall, Bauern hätten in einem Stadttheater das Stück gesehen und spielten es jetzt in ihrem Dorf nach, mit hemdsärmeligem Furor und fünf echten, fröhlich grunzenden rosa Schweinen. Dies warf die Frage auf, in was für ein Stadttheater die lustigen Dörfler da wohl geraten waren und wie es Simons gelungen sein mag, sein erlesenes Ensemble in eine Tölpeltruppe zu verwandeln.
Von dieser Unternehmung sind nun nicht einmal mehr Spurenelemente übrig. Simons denkt den Umgang mit dem Stück, das schon im April hätte herauskommen sollen, völlig neu. Von Miroslava Svolikova ließ er es sich neu übersetzen; obwohl sie durchaus den Klang traditionellerer Shakespeare-Übersetzungen beibehält, schafft sie eine luzide Klarheit. Man hört allen hier ungeheuer gern zu, auch weil alle den Text, den sie zu sprechen haben, sehr konkret denken. Dass man dieses Denken schön mitkriegt, dafür sorgt die robuste Verstärkung über Mikroports, die die Stimmen so groß macht, als müssten sie ein voll besetztes Haus ausfüllen und nicht nur die wenigen erreichen, die coronabedingt zuhören dürfen. Draußen vor dem Haus ist mehr los. Der Theaterplatz ist ein Hotspot der Jugend, die jetzt auch in Bochum nicht weiß, wohin mit sich am Abend und nun die freundlichen Vertreter des örtlichen Ordnungsamts mit ihrer Musik beschallt.
Drinnen gibt es keine Musik. Aber immer wieder rollt ein Dröhnen wie eine schwere Brandung durch den Raum. Das Soundkonzept von Warre Simons lässt an das Meer vor den Klippen von Dover denken, in das sich der geblendete Gloster stürzen will, oder auch an einen alles zermalmenden Malstrom. Wobei es hier nichts zu zermalmen gibt, außer natürlich den Menschen. Auf der Bühne ist lediglich ein überschaubarer Erdhaufen, auf dem Lears Brut das geerbte Land abstecken kann, der aber auch zum Herumtollen und Buddeln taugt, was aber selten passiert.
Dem meist vollkommen vereinzelten Sprechen mangelt es nie an Emotionalität, auch wenn alles vorgeführt ist
Das Großartige am Bühnenbild von Johannes Schütz spielt sich weit hinten ab. Dort befindet sich ein zweiter Raum, Aufenthaltsort aller Akteure, die dort auf ihre Auftritte warten, mal Kaffee kochen, ihn aber auch für eine Szene zum Spielen nutzen. Dann nämlich, wenn Lear mit seinem - hier zu imaginierenden - tosenden Gefolge bei seiner Tochter Goneril einziehen will und deren Haushofmeister wüst herumfuhrwerkt. Stefan Hunstein spielt den präzis, staubtrocken und leicht ironisch wie ein renitentes, aber sehr effizientes menschliches Multifunktionswerkzeug.
Auf die Wand dieses Hinterzimmers projiziert Lennart Laberenz die Wartenden in schwarz-weiß. Kontinuierlich und unermüdlich fährt eine Kamera an ihnen entlang, an Gestalten in etwas eigenwilligen Kostümen - die drei Töchter etwa haben eine Art Fez mit Vordach auf dem Kopf. Später im Spiel können diese eigenwilligen Klamotten aber gut zu einem Bildarrangement taugen, wie gemalt von einem alten Meister. Hin und wieder erobert sich auch einer die Kamera, drückt ihr sein Gesicht auf, riesengroß. Durch sieben unterschiedlich große Rechtecköffnungen kommen die Darstellenden auf die Bühne, wodurch die Szenen auch elegant ineinander übergehen können. Diese Öffnungen sind auch eine tolle Täuschung. Konzentriert sich der Blick auf das fahle Video, so wirken sie mit dem warmen Licht der Hinterbühne wie Stelen; ein Eindruck, der sich noch viel stärker einstellt, wenn Bernd Felder auf die Beleuchtung von Glosters Blindheit umstellt. Dann ist es hinten stockfinster, die Wand weiß und gleißend hell, und die Öffnungen werden zu harten, schwarzen Monolithen.
Monolithen sind auch die Figuren. Ihre Stellvertreter erklären sich, einer nach dem anderen, sehr empathisch, enthusiastisch. Dem meist vollkommen vereinzelten Sprechen mangelt es nie an Emotionalität, auch wenn alles vorgeführt ist. Simons erfindet eine analytische Idealkonstellation, die auf jeden Fall bis zur Pause nach etwa 100 Minuten aufregend, spannend, kurzweilig ist, auch einfach wegen des hohen handwerklichen Niveaus. Aber: Besser ist es, die Situationen, die Shakespeare im "Lear" erzählt, zu kennen. Hier gibt es keinerlei Verortung, keine Heide, keine Höfe.
Simons vertraut auf den mitdenkenden Zuschauer - und das klappt
Die nutzlosen Gatten von Goneril und Regan, den garstigen Schwestern, sind gestrichen, sie selbst mit Männern besetzt, mit Mourad Baaiz und Michael Lippold, wohl weil sie sich ohnehin äußerst patriarchalisch benehmen. Gerade Lippold verkörpert eisig den Willen zur Macht. Da betont Simons etwas, ohne dann weiter zu gehen, wie er überhaupt auf eine deutlich aufs Heute zielende Deutung verzichtet, so wie es vor einem Jahr etwa Stefan Pucher an den Münchner Kammerspielen tat, der einen Geschlechter- und Generationenkampf entfachte, den nur Goneril und Regan überlebten, des Königs Reich vernichteten und mit ihm jede patriarchalische Struktur.
Simons vertraut auf den mitdenkenden Zuschauer. Auf die Analyse des Textes beim Hören. Und das klappt. Lange Zeit zumindest. Und es sind alle Narren, böse wie die Schwestern, freundliche wie jene, die zu Lear halten. Obwohl man den nicht liebhaben muss. Pierre Bokma führt ihn ein mit dessen Wahnsinn am Ende, um den zum Anfang des Stücks zurückzukehren, zur zynischen Liebesprobe, bei der Cordelia versagt, in Ehrlichkeit versagen muss und Bokma zum gutsherrischen Landlord wird. Der später auch mit dem Gürtel auf die Wand eindreschen kann, bis er schließlich in einem aufregend flackernden Wahnsinn versinkt. Steven Scharf ist ein Gloster in höchster Not, Konstantin Bühler ein fabelhafter Edgar, flamboyant schwankend zwischen Irresein und klarstem Verstand.
Cordelia hält zu Lear. Unverbrüchlich. Damit Anna Drexler das tun kann, spielt sie auch den Narren und Kent in Personalunion, ist immer präsent, mit ihrer so eigenen, verdutzten Art. Sie kann aber auch toben. Und Regie führen. Den fünften Akt, den Untergang, ordnet sie, spricht die Regieanweisungen, fuhrwerkt herum, arrangiert die Leichen, zu denen ihre Cordelia ja auch gehört. Nur: Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Faszination von Johan Simons' kunstreichen Analysetheater bereits abgeschwächt. Die Frau kann dann nur noch in den Trümmern herumkramen, die die Männer hinterlassen haben.