Theater:Alice rennt

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Alice sucht ein neues Zuhause. Doch Willkommenskultur gibt es nicht in dieser Fantasiewelt. (Foto: Martin Jehnichen)

So wird Tollwood zum Wunderland

Von Laura Helene May, München

Schwüle Luft hängt über dem Tollwood. Die Gäste des Schauplatzes warten gespannt auf den Beginn des Freilufttheaters und blicken besorgt auf die dunklen Gewitterwolken, während aus der Musik-Arena die Bässe des Yung-Hurn-Konzerts wummern. Pünktlich zu Beginn des Aktionstheaterstücks "Alice On The Run" verziehen sich die Wolken und die Bässe verstummen. Und los geht die märchenhafte Suche nach Heimat. Das Bühnenbild scheint samt Schauspielerin zu schweben und erzeugt magische Eindrücke. Die beweglichen Bühnenelemente verhindern das Abschweifen der Zuschauer; denn wer nicht aufpasst, wird schon einmal weggescheucht oder nass gespritzt. Das Publikum ist Teil dieses fiktiven Wunderland-Kosmos' und begleitet Alice nach dem Verlust ihres Hauses gemeinsam mit ihrem geliebten weißen Kaninchen auf eine turbulente Reise und die Suche nach einem neuen Zuhause.

Auf ihrem beschwerlichen Weg in einer kleinen Badewanne verliert Alice wie gewohnt nie den Mut und behält ihre kindlich-optimistische Lebenseinstellung. Auch wenn sie immer wieder von ihrem besten Kaninchenfreund getrennt wird. Der grenzenlosen Fantasie ihrer Vorlage, Lewis Carrolls "Alice's Adventures in Wonderland" von 1865, bleibt die deutsche Aktions-Theatergruppe Titanick dabei treu und lässt das Publikum in die Welt der Absurditäten eintauchen. Mit bunten Kostümen und zum Trotz der physikalischen Gesetze holt die 1990 gegründete Truppe das Märchen in die Gegenwart. Das taffe Mädchen wird in den Krieg der Königinnen verwickelt, trifft auf die verrückte Teegesellschaft, kämpft sich durch die Welt der papierbeladenen Schnabelbürokraten und rudert mit einem alten Besen durch das weite Meer. Bilder und Musik stehen im Zentrum der Inszenierung. Text gibt es nur bei vereinzelten Arien der Königinnen und einigen Ausrufen. Doch auch ohne Text wird die Anspielung auf die aktuellen Debatten über Heimat und Flucht sichtbar. Ob im Boot, in Ämtern, wo aggressiv gestempelt wird, gejagt oder eingewickelt in eine Rettungsdecke, Alice ist auf der Suche nach einer neuen Bleibe, ist nirgends willkommen und gehört nirgends dazu.

Die Theatergruppe dagegen scheint überall zuhause zu sein. Ihre Inszenierungen faszinieren Menschen unabhängig von Sprachen, Grenzen und Kulturkreisen. Die Gruppe blickt bereits auf 15 Tourproduktionen in 28 Ländern zurück und wurde dafür mit Auszeichnungen wie dem ersten Preis beim Belgrader Theaterfestival oder dem Pressepreis des "Juste pour Rire"-Festivals, Nordamerikas größtem Theaterfestival, in Montreal geehrt.

Das Spektakel aus scheinbar fliegenden Schauspielern und schwebenden Kulissen wird zudem von Spezialeffekten aus Feuer, Wasser und Luft begleitet. So eskaliert ein offener Feuerwerkskonflikt zwischen Schachfiguren oder explodiert eine überdimensionale Champagnerflasche. Staunend wie Kinder im Erlebnispark verfolgen die Zuschauer dieses Spektakel. Und trotz etwas müder Beine zum Ende hin, gehen alle bezaubert Richtung Heimat, die spätestens jetzt jeder zu schätzen weiß.

© SZ vom 29.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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