Ted Hughes: "Wodwo. Ausgewählte Gedichte":Kopfabreißen mit Stil

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Einer der charismatischsten amerikanischen Dichter des 20. Jahrhunderts, bekannt geblieben auch durch sein schicksalhaftes Leben: Ted Hughes. (Foto: Evening Standard/Getty Images)

Ted Hughes' Gedichte über das Wunder des Lebens und des Todes kommen neu übersetzt von dem Naturdichter Jan Wagner zu ganzer Kraft.

Von Jörg Magenau

Wodwo ist ein Schnüffler. Ein haariger, wilder Waldbewohner, der Frösche, Flüsse und Feuchtgebiete liebt. Ein Anarch, ganz und gar frei und doch sich selbst ein Rätsel: "Ich scheine / vom Boden getrennt zu sein nicht verwurzelt sondern aus / dem Nichts beiläufig fallengelassen keinerlei Stränge / binden mich an irgendetwas ich kann überall hingehen / Mir wurde so scheint es alle Freiheit dieses / Ortes gewährt was bin ich also?"

"Wodwo" ist ein mythologisches Wesen aus der mittelalterlichen englischen Dichtung, das Ted Hughes in seinem dritten Gedichtband von 1967 wieder auferstehen ließ. "Wodwo" heißt nun auch die Sammlung von Gedichten, die der Lyriker und Büchnerpreisträger Jan Wagner als repräsentativen Längsschnitt durch Ted Hughes' Gesamtwerk ausgewählt und aus dem Englischen übersetzt hat. In seinem Nachwort weist Wagner darauf hin, dass Hughes 1930 in der Grafschaft Yorkshire in einem Ort namens Mytholmroyd geboren wurde, der, auch wenn er "für wenig mehr berühmt ist als eben für Ted Hughes" doch "wunderbarerweise schon das Wörtchen 'myth', den Mythos also, im Namen trägt". Das sei, so Wagner weiter, durchaus angemessen für einen Dichter, der Ovids Metamorphosen ins Englische übersetzt und sich zeitlebens mit Mythen aus aller Herren Länder beschäftigt habe.

Tatsächlich führt die Spur des Waldwesens Wodwo tief hinein in den Kosmos der Dichtung von Ted Hughes. Es gibt wohl keinen anderen Dichter, der sich so elementar und so besessen der Natur oder vielmehr der kreaturhaften, tierischen Existenz verschrieben hätte wie Ted Hughes. Seine Tiergedichte haben ihn berühmt gemacht. Im vorliegenden Band finden sich unter anderem lyrische Porträts von Jaguar, Fuchs, Krähe, Stier, Schwein, Otter, Drosseln, Hechten, Krabben, Bär, Mauersegler, Schnake, Schwalbe, Henne, Zaunkönig, Hase, Honigbiene und Eule, von Gedichten über Farne, Wälder, Flüsse, die Moorlandschaften seiner Heimat, Jahreszeiten und Mondnächte ganz abgesehen. Manchmal braucht Hughes nur wenige Zeilen, um ein Tier entstehen zu lassen, so wie die Biene aus dem "Zittern in der Leere" heraus: "Der Honigbiene, / Brillant wie Einsteins Idee, / Kann man nichts beibringen. / Ganz wie die Sonne ist sie für immer auf Kurs. // Als existiere überhaupt nichts anders / als ihre Blumen."

Der Blick des Tieres fällt zurück auf den Dichter: Habicht im Flug. (Foto: McPHOTO/A. Schauhuber/imago images/blickwinkel)

Was sich fast wie ein Verzeichnis aus "Brehms Tierleben" liest, ist bemerkenswert vor allem durch Hughes' besonderen Blick auf alles, was lebt. Jedes Exemplar der Schöpfung, über das er schreibt, macht er aus dessen jeweiligen Fähigkeiten heraus stark. Er bewundert die Eleganz der Tiere, er feiert ihre Kraft und nimmt die Gnadenlosigkeit des Fressen-und-Gefressenwerdens ohne jegliche moralisierende Bestürzung zur Kenntnis. Sein Gedicht "Hawk Roosting", das Jan Wagner mit "Habicht auf einem Ast" übersetzt, wurde berühmt, weil der Habicht, der da in Ich-Form über sich Auskunft gibt, sich als Krone der Schöpfung empfindet und keinerlei Rechtfertigungszwängen unterliegt. "Ich töte ganz nach Belieben, denn alles ist mein. / Nichts Ausgeklügeltes in meinem Körper; / Meine Umgangsform ist das Kopfabreißen. // Die Zuteilung des Todes. / Denn der einzige Pfad meines Fluges führt / Direkt durch die Knochen derer, die leben. / Und kein Argument muss mir Geltung verschaffen; // Die Sonne selbst steht hinter mir."

Man hat Ted Hughes wegen solcher Töne immer wieder faschistischer Neigungen bezichtigt, ein Vorwurf, den Jan Wagner in seinem fulminanten Nachwort ad absurdum führt. Vielmehr handelt es sich bei seiner Lyrik um eine Feier der Schöpfung, in der die Dinge und die Tiere im Kreislauf des Lebens mit sich im Reinen sind, während den Menschen die Demut fehlt. In einem mit "Theologie" überschriebenen Kurzgedicht dreht Hughes die biblische Schöpfungsgeschichte um. Zuerst isst Adam den Apfel, dann isst Eva Adam und schließlich isst die Schlange Eva und macht dann im dunklen Darm ihrer Gestalt "ihr Verdauungsschläfchen im Paradies". Auch die Schlange ist ganz und gar zufrieden mit sich.

Von großer Bedeutung sind in vielen dieser Gedichte die Augen. Sie sind das zentrale Sinnesorgan und so etwas wie Öffnungen, durch die man hinaus- und hineinschauen kann. Da findet fortwährend eine Blickumkehr statt, indem die Tiere selbst zu Sehenden werden, die sich der Betrachtung durch den Menschen entziehen. Der Habicht oben auf seinem Ast durchschaut mit geschlossenen Augen die Welt. Auch der in einem Käfig gefangene Jaguar, der von der Menschenmenge begafft wird, entkommt seiner Gefangenschaft, indem er dem eigenen, wutentbrannten "Bohrblick" in ferne Gefilde folgt: "weil keine Zelle // Den Seher einengt, gibt es keinen Käfig: / Wie Wildnisse von Freiheiten sein Schreiten. / Die Erde dreht sich, wo sein Fuß sich hebt / Vom Käfiggrund, und Horizonte steigen."

Ein schreibendes Paar: Ted Hughes und Sylvia Plath, die sich am 11. Februar 1963 das Leben nahm. (Foto: Sotheby's/picture alliance/dpa/PA Media)

Hughes versuchte hartnäckig und nicht ohne Erfolg, die von ihm so bewunderte Elementarkraft der Tiere direkt auf die Dichtung zu übertragen. In seinen Essays wies er immer wieder darauf hin, dass das Schreiben für ihn so etwas sei wie das Jagen, und dass er sich seine Gedichte tatsächlich als Tiere vorstelle. Sie handeln also nicht bloß von Tieren, sondern sind ihrem Wesen nach tierhaft: "Wie Tiere führen sie ein Eigenleben, damit meine ich, sie scheinen ganz und gar losgelöst von irgendwelchen Personen, selbst von ihrem Autor, und nichts kann ihnen hinzugefügt oder weggenommen werden, ohne sie zu verstümmeln oder sie möglicherweise sogar umzubringen."

Jan Wagner sieht in diesem Bekenntnis eine besondere Herausforderung für sich als Übersetzer. Denn diesen "vitalen Wesen" darf auch die Übersetzung kein Leid zufügen und "kein Haar des neuen Fells" in der anderen Sprache krümmen. Das ist ihm außerordentlich gut gelungen, weil er im Deutschen stets ganz dicht am Original bleibt, wie sich in der zweisprachigen Ausgabe - links das Original, rechts die Übersetzung - gut beobachten lässt. Wagner bewahrt Hughes' spröden, herben Ton, ohne etwas hinzuzufügen, abzumildern oder wegzulassen. Das liest sich teilweise fast wie eine Interlinearübersetzung, weil Wagner all die Arbeit, die es bedeutet, das Schlichte schlicht wiederzugeben, unsichtbar macht.

Ein Nachteil der chronologisch aufgebauten Auswahl der Gedichte liegt sicher darin, dass von Zyklen - etwa dem berühmten Krähen-Zyklus - nur wenig enthalten ist. Andere, wie "Prometheus auf seinem Felsen" fehlen ganz, weil sie nur im Zusammenhang abbildbar wären. Mit enthalten - und damit endet der Band - sind dagegen einige der Gedichte, in denen sich Ted Hughes zehn Jahre nach dem Suizid seiner Ehefrau, der Dichterin Sylvia Plath, mit ihr und dieser schwierigen Beziehung auseinandergesetzt hat. Es sind Verse voller Trauer, aber auch voller Schrecken über die eruptive, zerstörerische Energie, die da zum Vorschein kam - etwa dann, wenn er sich erinnert, wie Plath eine Tischplatte und einen Hocker zerschlug, "Von Sinnen, weil ich zwanzig Minuten / Zu spät zum Babysitten kam".

Ted Hughes: Wodwo. Ausgewählte Gedichte. Ausgewählt und aus dem Englischen übersetzt von Jan Wagner. Hanser Berlin, 2022, 248 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Wieder ist es das Unberechenbare, das ihn fasziniert und überwältigt. Und auch in diesen postumen Liebesgedichten sind die Augen von besonderer Bedeutung, die Augen des gemeinsamen Sohnes zunächst, "die uns verstörten", die dann aber, nach Plaths Tod, "So vollkommen zu deinen Augen, / Zu feuchten Juwelen wurden, / Nun härtester Stoff aus reinstem Schmerz / Als ich ihn auf seinem weißen Kinderstuhl fütterte".

Hughes integriert mühelos das Alltägliche und das Banale in seine Lyrik. Niemals neigt er dazu, zu blenden oder aufzuschneiden oder mit Bildung zu protzen. Keines seiner Tiere wird dazu erniedrigt, Symbol für was auch immer sein zu müssen. Sie verweisen auf nichts als sich selbst und vielleicht aufeinander, weil sie in der Summe diesen lyrischen, aber eben auch belebten Kosmos ausmachen. Ob Hughes über Kühe auf dem Feldweg schreibt oder über Rehe im Abenddunkel oder über die Hechte, die sich gegenseitig auffressen und mit stählernem Auge sterben: Jedes Gedicht, und sei es noch so unscheinbar, handelt vom Wunder des Lebens und des Todes.

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Dichten heißt für Hughes, etwas zum Leben erwecken, heißt, einem Wesen, das in der Sprache Gestalt werden will, Masse, Farbe, Form und damit "seine einzigartige lebendige Wirklichkeit inmitten der allgemeinen Leblosigkeit" zu geben. Jan Wagner ist es gelungen, diesen staunenswerten Vorgang in der deutschen Übersetzung kongenial nachzuempfinden und spürbar werden zu lassen.

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