Dieser gedankenlose, literarisch unberatene Umgang mit den Dokumenten und Stimmen der Toten war der Hauptangriffspunkt der Verrisse. Verboten sind solche fahrigen Griffe ins Archiv nicht, aber in der Literatur gilt nun einmal, dass die Geister, die ein Autor ruft, Ansprüche an seinen Text stellen. Die Geister aus dem Archiv entstammen der Realgeschichte, sie konfrontieren die Liebeshandlung in "Stella" mit einem Jenseits, dem sich der Roman nicht stellt.
Er tut alles, um seinen naiven, farbenblinden Erzähler gegen das Motiv abzudichten, das ihn, den Schweizer, vorgeblich in das Berlin des Jahres 1942 geführt hat: "Jemand musste die Gerüchte von der Wirklichkeit trennen." Es sind die Gerüchte, die bis in die Nähe von Genf gedrungen sind, dass in Berlin Möbelwagen durch die Straßen fahren und Juden zur Deportation abholen. Die Trennung von Wirklichkeit und Gerücht ist eine der Formeln, denen Recherche und Reportage unterstehen. Nichts liegt diesem Roman eines Reporters ferner. Eher zerstreut wirft er Seitenblicke auf die Eltern seiner fiktiven Stella Goldschlag. Vage kündigt er an, "Grauzonen" erkunden zu wollen.
Die Verisse nehmen Anstoß an der ornamentalen Vernutzung der realen Toten
Vor allem lässt er das Was, Wann und Wo der Erzählerstimme vollkommen im Dunkeln und handelt sich dadurch Probleme ein, in die jeder Ich-Erzähler gerät, der im Rückblick ein Stück NS-Kolportage erzählt, ohne das Wissen der Nachgeborenen in sich aufzunehmen. Dieser hastig zusammengebastelte Schweizer nährt den Verdacht, dass der Autor ihn vor allem erfunden hat, um beim Arrangement der historischen Kulissen möglichst frei schalten und walten zu können.
Diese Freiheit ist die Freiheit zum Ausschlachten des Archivs zur Erzeugung von Ornamenten der Authentizität. Es ist falsch, wenn Jo Lendle behauptet, die Vorwürfe gegen den Roman seines Autors seien "zum großen Teil außerliterarische". Die Verrisse stellen "Stella" in den Echoraum des Verhältnisses von Literatur und Archiv. Sie werfen dem Roman nicht vor, dass er überhaupt Fakten und Fiktionen mischt. Sie werfen ihm die Unzulänglichkeit der literarischen Mittel vor, die er dabei verwendet, und nehmen Anstoß an der ornamentalen Vernutzung der realen Toten aus dem historischen Archiv. Und an dem Raunen von "Schuld" in einem Liebesroman, der eine jüdische Verräterin und Denunziantin jedenfalls nicht in sein Zentrum stellt, um sich mit der Klärung von Schuldfragen zu befassen. Nichts ist falscher als die Beschwichtigungsformel vom Staub der Archive. In ihnen steckt Sprengstoff, stecken Zumutungen, Herausforderungen. Der historische Fall der Stella Goldschlag ist ein solcher Fall. Als Ornament ist er ungeeignet.
Übrigens durchzieht ein leiser Hauch des in der politischen Arena blühenden Misstrauens gegen Eliten und Institutionen die Debatte um "Stella". Nicht nur zwischen den Zeilen war zu lesen, hier erhebe sich die Literaturkritik über das Lesevolk, das gerade dabei ist, aus dem Roman einen Bestseller zu machen und im NDR, der "Stella" zum Buch des Monats gemacht hat, der Sendung "Am Morgen vorgelesen" zu lauschen, wo es vorgetragen wird. Literaturkritische Argumente lassen sich aber durch Hinweise auf Verkaufszahlen weder beglaubigen noch widerlegen.
Und es wird ja nicht mit kritischen Kanonen auf einen harmlosen Spatzen geschossen, der einfach nur unterhalten will. "Takis Würger hat sich etwas Aberwitziges vorgenommen: das Unerzählbare zu erzählen", verspricht Daniel Kehlmann auf der Rückseite des Buches. Das greift in das höchste Register, in dem in der Nachkriegszeit über die Darstellbarkeit von Nationalsozialismus und Judenvernichtung gesprochen wurde, zum Topos, das Geschehene entziehe sich jeder Literarisierung. Dieser Topos hat die Literatur nicht gelähmt, sondern herausgefordert, nach Sprachen und Formen zu suchen, die ihn widerlegen. Indem er ihn zitiert, markiert der Roman "Stella" seine Fallhöhe.