Literaturdebatte:Ein Autor muss sich den Geistern stellen, die er ruft

Öffentliches Leben 1943-1945 - Verschiedenes -

Berlin in den Vierzigerjahren: "Jemand musste die Gerüchte von der Wirklichkeit trennen", sagt Würgers Erzähler, aber nichts liegt dem Roman ferner.

(Foto: SZ Photo)

Takis Würgers umstrittener Roman "Stella" verrät nicht nur die Stimmen der Toten an die Maschinerie des Liebesromans. Er wirft auch die Frage auf, ob die Judenvernichtung zum beliebig nutzbaren Material wird.

Von Lothar Müller

Am 13. Dezember 2018 ist in Tel Aviv der Sportjournalist Noah Klieger im Alter von 92 Jahren gestorben. Er war 1942 im besetzten Belgien als jugendliches Mitglied einer jüdischen Untergrundorganisation verhaftet worden und hatte das Vernichtungslager Auschwitz III überlebt, weil er behauptete, boxen zu können, als dort zum Vergnügen eines Kommandanten eine Boxmannschaft aus Häftlingen zusammengestellt wurde. Er war jedoch gar kein Boxer und verlor alle Kämpfe, aber nicht sein Leben.

In dem kürzlich erschienenen Roman "Stella" des 1985 geborenen Autors und Spiegel-Reporters Takis Würger taucht Noah Klieger im Berlin des Jahres 1942 als kleiner, blasser junger Mann auf, der sich als "Berliner Meister im Weltergewicht" vorstellt und in einer Kneipe in der Torstraße gleich mehrere Soldaten ausknockt, die gegenüber der Freundin des Ich-Erzählers allzu aufdringlich geworden sind. Im Abspann des Romans wird der blasse junge Mann, der nicht boxen darf, weil er Jude ist, ausdrücklich mit dem Auschwitz-Überlebenden "Noah K." identifiziert: "Er lebt heute in Israel am Ende einer Palmenallee. Seine Geschichte geht weiter."

Nur lose haftet der Name des Zeitzeugen Noah K. an dem Berliner Meister im Weltergewicht des Romans. Er unterliegt als Staffagefigur dem gleichen Gesetz wie die Titelfigur. Er soll die Geschichte, die erzählt wird, mit der Aura des Dokumentarischen, Authentischen umgeben. Ebenso lose wie der kleine, blasse Boxer an Noah K. haftet der Name "Stella" an der historischen Stella Goldschlag, die während des Nationalsozialismus in Berlin untergetauchte Juden denunzierte. Die Romanform kann ein Instrument der Menschenerkundung sein, auch dann, wenn sie Archiv und Erfindung koppelt. Hier ist sie es nicht. "Stella" würzt eine im Kolportagestil erzählte Liebesgeschichte mit dem Aroma abgrundtiefen Verrats. Der Liebesroman als Erzählmodell bleibt durch den historischen Stoff, den er in sich aufnimmt, vollkommen ungefährdet.

Darüber ist ein publizistischer Streit entbrannt, der mit dem Tod von Noah Klieger zu tun hat und mit den Maßstäben der Literaturkritik. Der Tod Noah Kliegers steht für das Aussterben der letzten Zeitzeugen. Es überantwortet die Geschichte, deren Opfer er war, endgültig den Nachgeborenen. Das Nebeneinander von scharfen Verrissen des Romans (SZ vom 11. Januar) und enthusiastischen Apologien und Lobeshymnen findet an dieser Abbruchkante statt.

Und weil das so ist, droht ein Argument, das oft an solchen Abbruchkanten auftaucht, den Streitgegenstand zu verdunkeln. Es besagt, dass mit dem historischen Abstand zum Geschehen die literarischen Lizenzen, darüber zu schreiben, sich erweitern. "Es ist klar, dass dieses Buch nicht vor 40 Jahren hätte veröffentlicht werden können", sagte in einem NDR-Interview Jo Lendle, Chef des Hanser-Verlags, der das Buch zum Spitzentitel und Gegenstand einer großen Werbekampagne gemacht hat. Er fügte hinzu, jede Generation müsse und dürfe ihr eigenes Verhältnis zu diesem historischen Stoff finden.

Der Streit um dieses Buch verläuft aber nicht entlang von Generationengrenzen. Die schärfsten Verrisse wie die freundlichsten Empfehlungen stammen von Kritikern aus der Generation Würgers. Und es stimmt auch nicht, dass ein Roman wie "Stella" vor vierzig Jahren nicht hätte erscheinen können. Das Verhältnis der Unterhaltungsliteratur zu den historischen Stoffen aus der Zeit von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg war in Deutschland nach 1945 kein Techtelmechtel, sondern eine stabile Affäre. Schneidige SS-Offiziere wie den Obersturmbannführer Tristan von Appen, der in "Stella" verbotenen Jazz und französische Delikatessen liebt und zum Roman einen Hauch von Ménage-à-trois beisteuert, gibt es darin reichlich.

Die Literatur hat immer alle Register zur Verfügung, es liegt am Autor, welche er ziehen will

Und auch eine Stella. Heinz Konsaliks "Frauenbataillon" erschien 1981, verfasst von einem Angehörigen der Kriegsgeneration, der als Wehrmachtssoldat an der russischen Front schwer verwundet worden war. Er machte die sowjetische Scharfschützin Stella Antonowna zur Gegenspielerin seines deutschen treuen Soldaten Peter Hesslich und ihren Zweikampf zum Vorspiel einer heißen Liebesszene, die den Helden in einen tiefen Konflikt stürzte: "Was soll ich mit Stella tun? Sie laufen lassen - das bedeutet den Tod vieler Kameraden. Sie töten - dazu bin ich nicht fähig, so wie sie vor mir sitzt mit nackten Brüsten, jung und schön, die blonden Locken zerzaust, in den blaugrünen Augen der Schimmer der violett untergehenden Sonne."

Die Literatur hat immer alle Register zur Verfügung, es liegt am Autor, welche er ziehen will, mag er jung sein oder alt, Enkel oder Urenkel eines SS-Offiziers, Enkel oder Urenkel eines Opfers der NS-Vernichtungsmaschinerie. "Für meinen Urgroßvater Willi Wage, der 1941 während der Aktion T4 vergast wurde" steht als Widmung vor dem Roman von Takis Würger. Keiner seiner Apologeten und keiner seiner Kritiker würde zögern, den Satz von Alexander Gauland zu verurteilen: "Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte." Die Debatte über "Stella" findet diesseits der Regionen statt, in denen Nationalsozialismus und Judenvernichtung bagatellisiert werden sollen, um den Stolz der Deutschen auf sich selbst zu stärken.

Aber ihr Streitgegenstand erhält sein Gewicht durch die Frage nach der Zukunft der Erinnerungskultur. Dieser Streitgegenstand ist das Verhältnis der Literatur zu den Archiven, in denen die Geschichte von Vernichtung und Verrat, Opfern und Tätern, Mitläufern und Widerständigen gespeichert ist. Takis Würger hat in seinen Liebesroman einen Aktenordner aus dem Prozess hineinmontiert, den die sowjetische Militärverwaltung der historischen Stella Goldschlag im Frühjahr 1946 machte. Ein Schwarm von Deportierten, Ermordeten und Entkommenen steht als stummer Chor im Hintergrund des Liebesromans. Er wird in die Romanmaschinerie eingespeist und verbraucht, ohne dass die Maschinerie der Liebeshandlung je ins Stocken geraten oder es dem Erzähler je die Sprache verschlagen würde. Die Maschinerie läuft wie geschmiert, die Sprache des Liebesromans bleibt von der Sprache der Akten unberührt.

Der historische Fall der Stella Goldschlag ist als Ornament ungeeignet

Dieser gedankenlose, literarisch unberatene Umgang mit den Dokumenten und Stimmen der Toten war der Hauptangriffspunkt der Verrisse. Verboten sind solche fahrigen Griffe ins Archiv nicht, aber in der Literatur gilt nun einmal, dass die Geister, die ein Autor ruft, Ansprüche an seinen Text stellen. Die Geister aus dem Archiv entstammen der Realgeschichte, sie konfrontieren die Liebeshandlung in "Stella" mit einem Jenseits, dem sich der Roman nicht stellt.

Er tut alles, um seinen naiven, farbenblinden Erzähler gegen das Motiv abzudichten, das ihn, den Schweizer, vorgeblich in das Berlin des Jahres 1942 geführt hat: "Jemand musste die Gerüchte von der Wirklichkeit trennen." Es sind die Gerüchte, die bis in die Nähe von Genf gedrungen sind, dass in Berlin Möbelwagen durch die Straßen fahren und Juden zur Deportation abholen. Die Trennung von Wirklichkeit und Gerücht ist eine der Formeln, denen Recherche und Reportage unterstehen. Nichts liegt diesem Roman eines Reporters ferner. Eher zerstreut wirft er Seitenblicke auf die Eltern seiner fiktiven Stella Goldschlag. Vage kündigt er an, "Grauzonen" erkunden zu wollen.

Die Verisse nehmen Anstoß an der ornamentalen Vernutzung der realen Toten

Vor allem lässt er das Was, Wann und Wo der Erzählerstimme vollkommen im Dunkeln und handelt sich dadurch Probleme ein, in die jeder Ich-Erzähler gerät, der im Rückblick ein Stück NS-Kolportage erzählt, ohne das Wissen der Nachgeborenen in sich aufzunehmen. Dieser hastig zusammengebastelte Schweizer nährt den Verdacht, dass der Autor ihn vor allem erfunden hat, um beim Arrangement der historischen Kulissen möglichst frei schalten und walten zu können.

Diese Freiheit ist die Freiheit zum Ausschlachten des Archivs zur Erzeugung von Ornamenten der Authentizität. Es ist falsch, wenn Jo Lendle behauptet, die Vorwürfe gegen den Roman seines Autors seien "zum großen Teil außerliterarische". Die Verrisse stellen "Stella" in den Echoraum des Verhältnisses von Literatur und Archiv. Sie werfen dem Roman nicht vor, dass er überhaupt Fakten und Fiktionen mischt. Sie werfen ihm die Unzulänglichkeit der literarischen Mittel vor, die er dabei verwendet, und nehmen Anstoß an der ornamentalen Vernutzung der realen Toten aus dem historischen Archiv. Und an dem Raunen von "Schuld" in einem Liebesroman, der eine jüdische Verräterin und Denunziantin jedenfalls nicht in sein Zentrum stellt, um sich mit der Klärung von Schuldfragen zu befassen. Nichts ist falscher als die Beschwichtigungsformel vom Staub der Archive. In ihnen steckt Sprengstoff, stecken Zumutungen, Herausforderungen. Der historische Fall der Stella Goldschlag ist ein solcher Fall. Als Ornament ist er ungeeignet.

Übrigens durchzieht ein leiser Hauch des in der politischen Arena blühenden Misstrauens gegen Eliten und Institutionen die Debatte um "Stella". Nicht nur zwischen den Zeilen war zu lesen, hier erhebe sich die Literaturkritik über das Lesevolk, das gerade dabei ist, aus dem Roman einen Bestseller zu machen und im NDR, der "Stella" zum Buch des Monats gemacht hat, der Sendung "Am Morgen vorgelesen" zu lauschen, wo es vorgetragen wird. Literaturkritische Argumente lassen sich aber durch Hinweise auf Verkaufszahlen weder beglaubigen noch widerlegen.

Und es wird ja nicht mit kritischen Kanonen auf einen harmlosen Spatzen geschossen, der einfach nur unterhalten will. "Takis Würger hat sich etwas Aberwitziges vorgenommen: das Unerzählbare zu erzählen", verspricht Daniel Kehlmann auf der Rückseite des Buches. Das greift in das höchste Register, in dem in der Nachkriegszeit über die Darstellbarkeit von Nationalsozialismus und Judenvernichtung gesprochen wurde, zum Topos, das Geschehene entziehe sich jeder Literarisierung. Dieser Topos hat die Literatur nicht gelähmt, sondern herausgefordert, nach Sprachen und Formen zu suchen, die ihn widerlegen. Indem er ihn zitiert, markiert der Roman "Stella" seine Fallhöhe.

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