SZ-Serie: Stimmen aus Syrien:"Morgen ist schrecklicher als gestern"

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Eine syrische Familie fährt mit einem Auto in eine sicherere Region der Provinz Idlib. (Foto: AFP)

Als letzte Rebellenbastion steht das syrische Idlib unmittelbar vor einer Offensive. Die Sorge um die Stadt steht den Menschen ins Gesicht geschrieben.

Gastbeitrag von Anas al-Shamy

Über Syrien wird viel geschrieben: Kriegsverlauf, Geopolitik, Fluchtursachen. Aber wie sehen die Syrer selbst ihr Land? Wir haben Schriftsteller und Intellektuelle in Syrien gebeten, uns Texte und Gedanken zu schicken, so offen wie möglich, so vorsichtig wie nötig. Der 22-jährige Anas al-Shamy ist Fotojournalist und kommt aus der einstigen Rebellenhochburg Ost-Ghouta. Mitte Februar hatte die Regierung eine Offensive gegen den Ort gestartet, unter anderem mit massiven Luftangriffen, die mehr als 1600 Menschen das Leben kosteten. Zunächst lebten noch etwa 400 000 Menschen in dem belagerten Gebiet. Mitte März entkamen die ersten Zivilisten der Hölle, zu der Ost-Ghouta geworden war. Anas al-Shamy lebt mit seiner elfköpfigen Familie in al-Bab, einem Vorort von Aleppo.

In diesen Tagen schauen wir Syrer auf Idlib, die letzte Rebellenbastion im Land. Eine Offensive seitens der syrischen und russischen Armee steht unmittelbar bevor. Früher hat man für die Strecke von al-Bab nach Idlib zwei Stunden gebraucht, heute wären es sieben Stunden. Die Straßen sind zerstört, es gibt viele Checkpoints. Ich telefoniere in diesen Tagen viel mit Freunden vor Ort, sie haben Angst, gehen vom Schlimmsten aus. Wir wissen ja mittlerweile wie es sich anfühlt, wenn die Heimatstadt in Schutt und Asche gebombt wird. Bald geht die Schule wieder los, aber die Eltern kaufen keine Hefte oder Stifte ein wie sonst. Sie wissen ja nicht mal, ob sie ihre Kinder in die Schule schicken. So ist das in Syrien. Wir wissen nie was der Morgen bringt. Und das Morgen ist meist schrecklicher als das Gestern.

In diesen Tagen denke ich oft an meinen Freund Hossam al-Barbari. Er war einer dieser Menschen, die einem schnell ans Herz wachsen. Nach der Schule haben wir oft zusammen Tischkicker gespielt. Er hat seinen Eltern immer Grund zur Freude gegeben, er schrieb gute Noten, war hilfsbereit, ehrlich, fleißig. Er hätte bestimmt studiert. Doch als er eines Tages auf seinem Heimweg von der Schule war, schoss ihm ein Scharfschütze in den Kopf. Er war zwei Tage im Krankenhaus, dann starb er. Er war gerade 18 Jahre geworden. In diesen Tagen hoffe ich, dass wir uns bald wieder sehen. Denn es scheint so, als ob unser Leid erst aufhören wird, wenn die Seele aus dem Körper verschwindet.

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Vergangene Nacht habe ich geträumt, in meiner Heimatstadt zu sein, und auf einmal haben mich syrische Soldaten festgenommen. Ich war noch nie so dankbar aufzuwachen. Ich glaube, Menschen können nicht alles ertragen. Ein zweites Mal Ghouta - das halten meine Familie und ich nicht aus. Die Rauchschwaden, der Bombenhagel, der Muezzin, der vor dem nächsten Luftangriff warnt. Das Gefühl von der Welt vergessen worden zu sein.

"Sogar die Schlepper sind mit ihrem Latein am Ende."

Wenn in Idlib das passieren sollte, was in Ghouta passiert ist, werden die Menschen fliehen. Sie werden fliehen vor dem vielen Blut, das vergossen wird. Vielleicht öffnen die Türken die Grenzen, vielleicht auch nicht. Diese Ungewissheit macht uns fertig. Seit zehn Tagen versuchen meine Freunde über die Grenze in die Türkei zu kommen, bevor die Offensive auf Idlib beginnt. Doch jedes Mal werden sie von türkischen Soldaten daran gehindert. Sogar die Schlepper sind langsam mit ihrem Latein am Ende. Zumindest die 600 Dollar, die sie pro Kopf gezahlt haben, bekommen sie zurück.

Meine Freunde wissen, dass sie in der Türkei nicht ihr Glück finden werden, aber einen Hauch von Perspektive würde schon reichen. Ich hatte mich bereits von ihnen verabschiedet, aber sie kamen wieder. Niedergeschlagen, ohne Hoffnung. Ich erzählte ihnen von meinem Freund, der in der Türkei ist. Er arbeitet bei einem syrischen Verwandten und verkauft Frauenmode. Er spricht kaum Türkisch, aber die Menschen seien nett, erzählt er. Er hat Heimweh nach seiner Familie, die Sorge um sie bringt ihn fast um den Verstand. Ich erzähle ihnen das, damit sie wissen, was sie erwartet.

Vor ihren Fluchtversuchen waren wir in einem der beiden Parks in al-Bab Billard spielen. Aber die Stimmung war alles andere als ausgelassen. Die Sorge um Idlib steht den Menschen ins Gesicht geschrieben. Sie wissen: Was in Idlib passieren wird, kann auch hier passieren. Assads Armee gleicht einem Wirbelsturm, der über jede syrische Stadt wütet, bis sie ausgestorben ist, ja, entstellt. Es gibt keine sicheren Orte mehr, keine Rückzugsorte. Wo sollen wir Syrer hin? Die Grenzregion zur Türkei wird Assads nächstes Schlachtfeld sein. Und wir haben keine Möglichkeit mehr zur Flucht. Endstation, bitte aussteigen.

Aus dem Arabischen von Dunja Ramadan

© SZ vom 06.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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