Krieg in Syrien:"Verzweiflung wird sich in Elend verwandeln"

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Bergungsarbeiten in Zardana - einer Stadt bei Idlib (Foto: dpa; Bearbeitung SZ)

Idlib, letzte Bastion der syrischen Rebellen, steht vor einer Großoffensive der Armee. Die Schlacht könnte die schlimmste des Krieges werden, sagt Iolanda Jaquemet vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz.

Interview von Markus C. Schulte von Drach

Die syrische Armee bereitet eine Großoffensive auf die Provinz Idlib vor, die letzte noch von Rebellen kontrollierte Region des Landes. Dabei wird sie unterstützt von der russischen Luftwaffe und schiitischen Milizen.

Was bedeutet das für die Menschen in der Region, die bislang der letzte Rückzugsort vor den syrischen Truppen war? Fragen an Iolanda Jaquemet vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in Genf.

SZ: Wie ist die Lage in der Provinz Idlib angesichts der offenbar bevorstehenden Großoffensive der syrischen Armee?

Iolanda Jaquemet: In der Provinz leben derzeit mindestens 2,5 Millionen Menschen. Etwa die Hälfte sind Binnenvertriebene aus Aleppo, Ost-Ghouta, Deraa und anderen Orten, viele von ihnen sind schon etliche Male vertrieben worden.

Ein großer Teil hat keinen ausreichenden Zugang zu den notwendigsten Dingen wie Unterkünften, sauberem Wasser, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung. Viele hängen deshalb stark von humanitärer Hilfe ab, die über die türkische Grenze kommt.

Um Zugang zu den Zivilisten zu bekommen, müssen wir mit vielen Konfliktparteien verhandeln. Im Fall von Idlib war das in den vergangenen Jahren schwierig.

Wie schwer hat die Provinz bis jetzt schon unter dem Krieg gelitten?

Acht von 28 Kliniken und Krankenhäusern in Idlib sind nicht mehr in Betrieb. Die gynäkologische Station und die Kinderstation der Klinik in Maarat al-Numan sind zu 90 Prozent zerstört. Viele Menschen haben deshalb keinen Zugang zu medizinischer Versorgung mehr, oder sind gezwungen, andernorts medizinische Hilfe zu suchen. Das bedeutet, sie müssen lange, gefährliche Wege zurücklegen, in einer Konfliktzone mit sich verschiebenden Frontlinien.

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Aber auch die noch existierenden Gesundheitseinrichtungen arbeiten nur tagsüber, haben zu wenig Personal, zu wenig Medikamente, zu wenig Treibstoff für die Generatoren, auf die die Krankenhäuser angewiesen sind.

Was ist mit der Versorgung mit Wasser?

Schätzungen zufolge sind nur noch 40 Prozent der Infrastruktur zur Wasserversorgung intakt. Der Rest funktioniert nur noch teilweise, auch weil er infolge des Konflikts nicht instand gehalten werden kann.

Hungern müssen die Menschen nicht. Aber viele Bäckereien haben den Betrieb eingestellt, und die, die noch arbeiten, sind ebenfalls auf Generatoren angewiesen. Mangelt es an Treibstoff, wird er teurer, und so wird das Brot teurer. Das setzt die Menschen weiter unter Druck.

Was wird passieren, wenn die Armee ihre Offensive beginnt?

Eine Ausweitung der Kämpfe wird katastrophale Folgen haben. Durch jede Zunahme von Feindseligkeiten wird sich die Verzweiflung der Zivilbevölkerung in Elend verwandeln.

Wir müssen davon ausgehen, dass erneut Zehntausende oder Hunderttausende Menschen flüchten werden - in jede Richtung, die größere Sicherheit verspricht. Idlib verfügt aber nicht mehr über die Ressourcen, um weitere Vertriebene zu versorgen.

Gibt es denn überhaupt noch eine Richtung, in die die Menschen fliehen können?

Viele Optionen gibt es wohl nicht mehr. Aber wenn Ihr Haus durch Bomben oder Granaten zerstört wird, nehmen Sie Ihre Kinder und Alten und laufen vor den Kämpfen weg - egal wohin.

Halten Sie es für möglich, dass die Kriegsparteien doch noch eine friedliche Lösung aushandeln?

Darüber möchte ich nicht spekulieren. Solange es aber keine politische Lösung gibt, rufen wir alle, die kämpfen, dazu auf, die internationalen humanitären Regeln, die Genfer Konventionen, zu respektieren. Wenn Zivilisten und Zivilstrukturen wie Krankenhäuser, Schulen, Märkte verschont würden, wäre das Leid natürlich deutlich geringer.

Iolanda Jaquemet ist Sprecherin des Internatiolen Komitees vom Roten Kreuz (ICRC) in Genf, mit Schwerpunkt Naher Osten. (Foto: ICRC/Kathryn COOK)

Leider mussten wir in den vergangenen Jahren - während der Schlacht von Aleppo, der Kämpfe in Ost-Ghouta oder in Rakka - beobachten, dass alle Seiten die Regeln kontinuierlich missachtet haben.

Angesichts der schieren Zahl von Zivilisten in Idlib befürchten wir: Das, was den Menschen dort bevorsteht, könnte noch viel, viel schlimmer werden, als das, was wir bisher gesehen haben.

Müssen die Europäer damit rechnen, dass dann wieder mehr Flüchtlinge kommen?

Wir gehen erst einmal davon aus, dass sich innerhalb von Idlib wieder viele Menschen auf die Flucht begeben werden, mit nichts als dem, was sie tragen können. Ob sie versuchen werden, Grenzen zu überqueren, können wir nicht sagen. Was passieren wird, hängt vom Verlauf der Kämpfe ab, und von der Bereitschaft der Nachbarländer, weitere Flüchtlinge aufzunehmen.

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