Stig Dagerman: "Deutscher Herbst":Tage im Morast

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München, oder was davon übrig blieb, im Juni 1946. In dem Jahr reiste auch der schwedische Autor Stig Dagerman durch Deutschland. (Foto: imago images/Rolf Poss)

Der schwedische Autor Stig Dagerman reiste 1946 durch ein zertrümmertes Deutschland. Seine Reportagen sind nun neu übersetzt.

Von Sophie Wennerscheid

Im Herbst 1946 reiste der 23-jährige schwedische Autor Stig Dagerman mit dem Zug von Stockholm über Dänemark nach Hamburg und von dort aus weiter durch die amerikanische und britische Besatzungszone, um Eindrücke aus dem zerstörten Nachkriegsdeutschland zu sammeln. Zurück in Schweden bearbeitete er das Material und veröffentlichte elf Reportagen in der Tageszeitung Expressen. Wenig später gab er die um zwei Texte ergänzten Artikel unter dem Titel "Tysk höst", "Deutscher Herbst", als Buch heraus. Die damals europaweit viel beachteten Texte gibt es jetzt in einer nuancierten Übersetzung von Paul Berf wieder auf Deutsch. Pointiert, abwechslungsreich und mit einem scharfen Blick für Details geschrieben sind sie ein wichtiges, empathisches Dokument deutscher Zeitgeschichte.

Mit den Augen des Fremden, der als Einwohner des neutralen Schwedens von den direkten Auswirkungen des Krieges verschont, aber nicht unberührt geblieben war, spürt und denkt Dagerman den Menschen nach, die im kalten und nassen Herbst 1946 ökonomisch vor dem Nichts stehen und als Menschen ihr Rückgrat verloren haben. Ohne sich in emotionalen Phrasen zu ergehen, beschreibt er die wuchtige Öde der Ruinen in einer zurückgenommenen und prägnanten Sprache, die noch heute das Ausmaß der Zerstörung vorstellbar macht: "Man fährt eine Viertelstunde mit dem Zug und hat ununterbrochen Aussicht auf etwas, das aussieht wie eine gigantische Müllkippe für kaputte Hausgiebel."

Weder verurteilt er die Deutschen, noch stellt er sie als Opfer dar

Ohne Vorbehalte und vorgefasste Meinungen lässt Dagerman sich auf das Elend und die Verbitterung der Menschen ein. Weder verurteilt er die Deutschen, noch stellt er sie als Opfer dar. Vielmehr übt er sich in der "Fähigkeit, auf das Leiden zu reagieren, ganz gleich, ob dieses Leiden nun unverschuldet oder selbst verschuldet ist". Mit deutlichen Worten kritisiert er die journalistischen Kollegen, die in vermeintlicher Objektivität die politische Einstellung der Hungrigen analysieren, "ohne gleichzeitig auch den Hunger einer Analyse zu unterziehen". Er lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass das beobachtete Leiden die "Folge eines gescheiterten deutschen Eroberungskrieges" ist, betont aber zugleich, dass die Deutschen kein fest zusammengeschweißter Block sind, der nationalsozialistische Kälte ausstrahlt, sondern "eine Vielfalt hungernder und frierender Individuen".

Mit seinem scharfen Blick für Details bleibt Dagerman nicht an der Oberfläche des Geschehenen, sondern geht in die von den Bomben verschonten Keller hinab, die den Menschen als Wohnstätte dienen, obwohl in ihnen das Wasser knöcheltief steht. Er sieht verhärmte und von Husten geschüttelte Kinder, die morgens um sechs auf die Straße geschickt werden, um etwas zu essen zu suchen. Er begegnet einer ehemaligen polnischen Lehrerin, die ihren Mann in Ausschwitz verloren hat, und lernt, wie Schwarzmarktgeschäfte ablaufen. Und er begleitet einen Amtsarzt zu den aus Bayern zwangsevakuierten Menschen, die seit Wochen in einem schäbigen Güterzug hausen und darauf warten, dass man sie in die Stadt Essen einfahren lässt, was aber nicht geschehen wird, weil das gesamte Ruhrgebiet von Flüchtlingen und Vertriebenen überfüllt ist. Es herrscht Zuzugsverbot.

Mit einer Haltung, die zwischen ungläubigem Erstaunen, desillusionierter Feststellung und bitterer Verzweiflung schwankt, zeichnet Dagerman psychologische Porträts, ohne dabei im eigentlichen Sinne zu psychologisieren. Mit einem an Beckett geschulten Sinn für das Absurde konstatiert er: "Der junge Amtsarzt ist ein konservativer Antifaschist, der die Fähigkeit besitzt, den Nationalsozialismus notfalls auch aus dem Blickwinkel der nationalen Notwendigkeit zu betrachten. Als er über die Besatzungszeit in Norwegen spricht, erzählt er von wunderbaren Skiausflügen. Wenn man ihn so reden hört, könnte man fast den Eindruck gewinnen, dass die Deutschen Norwegen wegen des Wintersports besetzt hatten."

Schmerzhaft, wie wenig Raum diese Bildern im kollektiven Gedächtnis haben

Nicht alle Kapitel sind von gleicher Qualität. Das erste und das letzte müht sich mit einer differenzierten politischen Einordnung und einer Reflexion auf die Position des Beobachters. Andere scheinen heute nicht mehr ganz so relevant. Dagermans Darstellung des SPD-Parteivorsitzenden Kurt Schumacher ist zwar bissig, aber politisch nicht erhellend. Die meisten Texte aber sind von einem so direkten Zugriff auf das Gesehene, dass einem schmerzhaft klar wird, wie wenig Raum diesen Bildern im kollektiven Gedächtnis zugestanden wurde.

Die Vereinnahmung des Elends der deutschen Flüchtlinge durch die Vertriebenenverbände und die Instrumentalisierung der Schrecken der Bombennächte durch rechte Gruppierungen haben es lange notwendig erscheinen lassen, sich nicht mit der Not der deutschen Bevölkerung auseinanderzusetzen, sondern ihre Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen zu analysieren. Stig Dagerman war da unvoreingenommener, ohne unbedarft zu sein.

Besonders eindrücklich ist das Kapitel über die Entnazifizierungsverhandlungen, denen Dagerman unter den zahlreichen Zuschauern folgt, die die Prozesse besuchen wie eine Theatervorstellung. Er fühlt sich in eine Welt versetzt, die mit ihren zugemauerten Fenstern und kalten Glühbirnen "wie eine der Wirklichkeit entnommene Illustration" zu Kafkas "Der Prozeß" anmutet. Alle Angeklagten plädieren auf unschuldig. Keiner war ein Nazi, jeder hat einen - für hundert Mark gekauften - jüdischen Zeugen, der gesehen hat, dass die betreffende Person Juden immer freundlich behandelt hat. In kurzen Dialogen, die den Ton der Sprecher lebendig wiedergibt, zeigt Dagerman, wie die Angeklagten sich reinwaschen und wie leicht sie mit ihren brüchigen Erklärungen davonkommen.

Er lässt sich erzählen, wie die Deutschen selbst das Ende des Krieges wahrgenommen haben

Vielschichtig wird das Geschilderte auch deshalb, weil Dagerman nicht nur seinen eigenen Blicken folgt, sondern seine Personen sich gegenseitig betrachten lässt. Er lässt sich erzählen, wie die Deutschen selbst das Ende des Krieges wahrgenommen haben. Manchmal weiß man nicht genau, wer hier eigentlich spricht. So wenn er die verdreckten Soldaten der Wehrmacht und die alten Männer des Volkssturms "schluchzend und stolpernd durch den Morast der Niederlage" ziehen lässt. Erinnert das Bild, das bei der Lektüre entsteht, eher an die Arbeiten von Käthe Kollwitz oder an die von Otto Dix?

Lakonie, Scharfzüngigkeit und Empathie gehen bei Dagerman eine interessante Mesalliance ein. Mal kommt der Autor den Menschen nahe, dann wieder lässt er den Blick schweifen. Nie aber vergisst er seinen eigenen privilegierten Standpunkt und die Schwierigkeit, Leid angemessen wiederzugeben. Trotzdem beharrt er darauf, dass das, was er sieht, nicht, wie sich phrasenhaft sagen lässt, "unbeschreiblich" ist. Es ist widerwärtig, zutiefst unappetitlich, skrupellos, hilflos, banal, niedrig, manchmal witzig, selten warmherzig - aber nicht "unbeschreiblich".

Stig Dagerman: Deutscher Herbst. Sachbuch. Guggolz Verlag, Berlin 2021. 190 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Dass die literarische Form Dagerman nicht einfach zugefallen ist, sondern er sie sich erarbeitet hat, zeigt auch die in dem Buch veröffentlichte Auswahl von Briefen, die er während seiner Reisen an Freunde und Familie geschrieben hat. So berührend sie als persönliche Dokumente sind, sind sie doch nicht von der gleichen Eindringlichkeit. Trotzdem ergänzen sie die Artikel auf eine gute, eben persönliche Weise. Weniger ergiebig ist das vom Übersetzer verfasste Nachwort. Hier würde man sich mehr historischen Kontext und vor allem mehr Information über das kurze Leben des Autors wünschen, der mit seinen düsteren Romanen und Erzählungen als literarischer Stern am schwedischen Autorenhimmel gefeiert wurde und sich 1954 mit nur 31 Jahren das Leben genommen hat.

Während Dagermans Werk in Italien und Frankreich, wo er wahlweise "der schwedische Camus" oder "der Rimbaud aus dem Norden" genannt wird, hohes Ansehen genießt, liegen auf Deutsch nur einzelne Werke vor. 1987 erschien bei Suhrkamp der Roman "Die Insel der Verdammten", 2010 gab Eichborn den mehrfach gut besprochenen Roman "Die schwedische Hochzeitsnacht" heraus. Aktuell im Handel erhältlich ist derzeit keins von ihnen mehr. Zeit für eine Neuentdeckung.

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