Oper Stuttgart:Das Experiment

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Drei Regieteams inszenieren Richard Wagners "Walküre" an der Staatsoper Stuttgart. Mit verblüffendem Ergebnis.

Von Egbert Tholl

Die kleine Ratte ist ganz aufgeregt. Sie saust ein Bahngleis entlang, vorbei an Ruinen, durchquert zerstörte Häuser, kommt an Farbtuben und Resten von anderen Dingen vorbei, die man braucht, um Kunst herzustellen. Die Ratte sucht einen Unterschlupf, ein paar Artgenossen sind hinter ihr her, sie bewegt sich exakt im Rhythmus der Musik, wird angetrieben von dem tosenden Vorspiel. Man sieht sie groß auf einer Leinwand, ihre Umrisse wirken wie ein Loch in einer Mauer oder, je nach Beleuchtung, wie die Baumkrone der Esche, deren Stamm hier ziemlich verloren auf der Mitte der Bühne steht. Man sieht sie aber auch in echt, ein von Menschen an Fäden bewegtes Plüschtierchen, das über die Bühne huscht.

Die Stuttgarter Staatsoper nimmt eine Idee wieder auf, mit der sie vor mehr als 20 Jahren Furore machte. Damals beauftragte der Intendant Klaus Zehelein vier verschiedene Regieteams mit der Umsetzung von Richard Wagners "Ring des Nibelungen". Sein Nachnachfolger Viktor Schoner wiederholt nun den Vorgang und verschärft ihn. Nicht nur wird jeder Teil des "Rings" von einer anderen Regie verarbeitet, in der "Walküre" gibt es für jeden der drei Akte ein anderes Team. Den Anfang macht die niederländische Truppe Hotel Modern, das sind im Kern Pauline Kalker, Arlène Hoornweg und Herman Helle, und was sie machen, ist ziemlich sensationell, wie überhaupt diese ganze "Walküre" in der Gegensätzlichkeit der hier zu sehenden Regiehandschriften ein aufregendes Unterfangen ist.

Hotel Modern waren 2007 zu Gast bei den Salzburger Festspielen und zeigten dort ihre zutiefst beklemmende Produktion "Lager". Darin stellten sie einen Tag im Konzentrationslager Auschwitz nach, ohne Text, nur mit vielen kleinen Figuren, die in einem Modell des Todeslagers starben, litten, in die Gaskammer gingen. Man sah einen Film, der auf den Bilder-Kanon des Grauens rekurrierte, und man sah dessen Herstellung, das Modell und die Figürchen darin wurden live gefilmt. Es war ein Requiem für die Opfer, es ging an die Nieren.

Diesen Herstellungsprozess wiederholt Hotel Modern nun im ersten Akt der "Walküre", das ist nicht deren erste Opernarbeit, aber vermutlich die faszinierendste. Am Rand der Bühne stehen Tische mit vielen kleinen Modellen, die für die Live-Filmarbeit benötigt werden, auch vor der kargen Esche stehen Utensilien. Menschen werden im Film nicht auftreten, nur die Ratten, die auf der Flucht sind. Die Welt um sie ist verheert, man ist am Ende eines Krieges, die Häuser sind nur noch Skelette, Panzerwracks stehen in einer apokalyptischen Landschaft, die Ratten suchen Schutz, den es nicht gibt. Jetzt liest sich das wie ein Kommentar auf das Weltgeschehen, aber das steht auch alles bei Wagner. Hunding und Siegmund kommen aus einem Krieg der Sippen, Sieglinde hat in der Vergangenheit Gewalt erfahren. Drei versehrte Menschen treffen hier aufeinander, zaghaft grünt ein bisschen Rosmarin, wenn der Wonnemond aufgeht, Nordlichter huschen über eine Eisfläche.

Cornelius Meister dirigiert echte Theatermusik, sehr positivistisch, auch sehr laut, dennoch versteht man die Solisten erstaunlich gut

Die drei Solisten des ersten Akts treten mit Rattenmasken auf, die sie schnell ablegen. Sie tragen Irgendwas wie aus dem Fundus, sie füllen machtvoll den Raum mit ihren Stimmen. Michael König stützt sich als Siegmund auf ein immenses, baritonales Fundament, im zweiten Akt kommen dann lichte Farben in seiner Stimme hinzu. Goran Jurić ist als Hunding eine Urgewalt, Simone Schneider hochdramatisch, kraftvoll, wild. Die Drei spielen fast nicht, ein bisschen Mimik, ein paar statuarische Gesten. Aber was sonst als Versagen der Personenregie gewertet würde, wird hier zu einem faszinierenden Trialog zwischen den Bildern, den Figuren und der Musik. Man hört den Krieg aus dem Graben, wo Cornelius Meister handwerklich präzis zu Werke geht; er dirigiert echte Theatermusik, sehr positivistisch, auch durchaus sehr laut, dennoch versteht man die Solisten erstaunlich gut. Die Drei stehen wie Sinnbilder in einer zerstörten Welt, in der nichts mehr gut werden wird. Nothung, das Schwert, kommt riesengroß als Menetekel von oben, herabgezogen an Schnüren. Gewalt ist in und über der Szene. Im Interview im Programmbuch sagen Hotel Modern: "Die Frage nach der Aktualität des Krieges ist eine Frage von Kilometern, nicht eine Frage der Zeit."

Wagners "Ring" ist Welterzählung, aber die Welt ist nicht mehr konsistent, wieso sollte es eine Opernaufführung sein? Der große Vorteil der Dreiteilung der Regie liegt darin, dass jedes Team sich auf einen Akt konzentrieren, ihn wie ein geschlossenes Stück behandeln kann. Also kann man ästhetisch weiter gehen, als wenn man das gesamte Narrativ im Auge behalten müsste. Setzen sich Hotel Modern noch scharf mit dem Inhalt und auch der Herstellung von Theater auseinander, so sind die Folgeakte vor allem ästhetische Setzungen, herausragend dicht.

Urs Schönebaum hat lange Zeit mit Robert Wilson zusammengearbeitet, sein zweiter Akt steht dessen Licht-Raum-Konstellationen an bildhafter Perfektion in nichts nach. Schönebaum macht Regie, Bühne, Licht und klärt erst einmal das Familiäre. Man trifft sich an einem Stück Schwemmholz, vermutlich von der Weltesche. Wotan spielt mit seinen Kindern Siegmund und Sieglinde, Brünnhilde tritt auf als liebe Tochter, das erste "Hojotoho" ist verspielte Ironie, dann wird der Gott von seiner Gattin Fricka, der furchtlosen Annika Schlicht, hemmungslos zusammengeschissen und auch noch mit Erotik umgarnt, bis er als machtloser Ehemann zusammensinkt.

Nach diesem Setting spielt Schönebaum ironisch mit allem Martialischen, düstere Türme werden herumgeschoben, Nebel wabert, Brünnhilde kehrt mit dunklen Schergen zurück, Fackeln flackern. Aber die Macht ist längst hohl, am Ende meuchelt Wotan Siegmund in einer wüsten Metzelei, wie ein Getriebener, der keinen Ausweg mehr hat.

Am Ende der ganzen "Walküre" geht es nicht mehr um Götter und Welten, nur noch um Menschen

Der Kontrast zum dritten Akt kann erstaunlicher kaum sein: Fröhliche Walküren, bunt gewandet, tollen in einem Raum voll farbiger Wellen herum, die ständig in Bewegung sind. Ein freundliches Farbbad. Ulla von Brandenburg, bildende Künstlerin und Professorin in Karlsruhe, liebt Farben und Stoffe, Materialien. Am Tag der "Walküren"-Premiere wird nebenan in der Staatsgalerie eine Schau eröffnet, die das Triadische Ballett Oskar Schlemmers feiert, das vor 100 Jahren in Stuttgart uraufgeführt wurde. Brandenburg hat dafür einen Raum gestaltet, ein gelber Kokon mit ein paar Utensilien, Walkürenspeere wie Mikadostäbe.

Ähnliches findet sich nun im dritten Akt auf der Bühne wieder, und auch wenn man Brandenburgs schönes Farbspiel kaum eine ganze "Walküre" lang ertrüge, so steuert sie doch untrüglich auf den entscheidenden Moment der gesamten Oper zu, den Abschied Wotans von seiner geliebten Brünnhilde. Der ist hier so menschlich wahr, anrührend, traurig. Brian Mulligan und Okka von der Damerau, beide geben ihr Rollendebüts hier, sind keineswegs die größten Stimmboliden, sie verfügen über etwas anderes. Etwas Seltenes bei diesen Partien: über eine zarte, wundersame Poesie, die zu Herzen geht. Cornelius Meister macht es ihnen dabei nicht leicht, sein Orchester ist zu laut und zu langsam, was vor allem für Mulligans Wotan hart wird. Aber dennoch: Am Ende der ganzen "Walküre" geht es nicht mehr um Götter und Welten, nur noch um Menschen. Das ist wundervoll, und rundet ein Experiment, das in all seiner Disparatheit faszinierend gut aufgeht. Und: Wann kriegt man schon mal drei Operninszenierungen an einem Abend?

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