Sibylle Bergs Roman:Glockenreiner Ton und lauter Niedertracht

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"Ein Kind kommt auf die Welt, Pech gehabt": Sibylle Berg macht einen messianischen Zwitter namens Toto zum Helden ihres neuen Romans. Das Buch ist voll von bitterem Witz über den miserablen Zustand der Welt.

Burkhard Müller

Bei manchen Schriftstellern reicht ein einziger kurzer Satz, und man weiß, mit wem man es zu tun hat. "Ein Kind kommt auf die Welt, Pech gehabt." Von wem könnte dieser Satz im Klappentext stammen als von Sibylle Berg? Es steckt alles drin, was diese Autorin ausmacht: ein dick aufgetragener Lakonismus, der eine tief pessimistische Sicht der Dinge mehr akzentuiert als verdeckt, welche ihrerseits aber sehr jugendlich, ja kindlich anmutet. Da ist jemand fertig mit der Welt; aber den Sarkasmus grundiert der Schmollmund.

Bergs Sarkasmus ist von anderem Kaliber als beispielsweise der von Elfriede Jelinek, wo er verhärmte und hermetische Züge trägt. Sibylle Berg dagegen erzählt mit dem Ton eines Kindes, welches es nicht fassen kann, dass ihm jemand seinen Teddybär gestohlen hat. Ihm liegt der Ausruf auf der Zunge: Das ist gemein! Aber dann beißt es so gut es kann die Zähne zusammen, um es den anderen so richtig zu zeigen. Es ist die Bitterkeit einer bemerkenswert ungefurchten Stirn.

"Vielen Dank für das Leben", lautet der Titel des Buchs; das sagt eigentlich auch schon alles. Es handelt von Toto, einem Zwitter, der 1966 unter den niederdrückenden Umständen der DDR-Provinz geboren wird und dessen Geschichte das Buch bis in die nahe Zukunft, etwa bis zum Jahr 2030, erzählt. Totos Vater ist unbekannt, seine Mutter eine Alkoholikerin, die sich alsbald verabschiedet; Geburtsklinik und Waisenhaus zeichnen sich durch eine melodramatische Kälte aus, wie sie der Roman wohl seit den Zeiten von Charles Dickens nicht mehr gewagt hat. "Niemand freute sich auf den neuen Menschen, kein Bett gab es da, kein Spielzeug wartete auf ihn oder sie, oder was ist es nun eigentlich."

Die schneidende Anklage kippt leicht ins Sentimentale. "Was hier als Kommunismus praktiziert wurde, kam dem ruppigen Wesen der Hebamme sehr entgegen." Auch Witz hat das Buch; doch wenn man darüber lacht, dann noch aus anderen Gründen, als die Erzählerin meint, nämlich, weil er nie weit weg ist vom Altklugen. Und die Wahrheit trifft es zuweilen wie mit einer Wünschelrute. "Heimat hieß nur, über Hässlichkeit nicht verwundert sein."

Da ist er wieder, der bitter altkluge Witz

Toto wird von der eisernen Regentin des Waisenhauses an eine völlig vertierte Bauernfamilie verkauft; er entdeckt sein außergewöhnliches Talent, seine glockenreine Kastratenstimme, als er seinen einzigen Gefährten, den Kühen, vorsingt. Er ist Parzival, er ist Kaspar Hauser, er ist Orpheus in einer Person. Eine deutsche K-Gruppe schmuggelt ihn in den Achtzigern im doppelten Boden ihres VW-Busses nach Westen, eine zwiespältige Aktion, verehren sie doch glühend den ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat. "(Die Gruppe) hatte überdies in den vergangenen zwei Jahren drei Jugendliche aus dem Osten gerettet, die jetzt alle ein freies Leben führten, bis auf zwei, die drogenabhängig geworden waren, und einen, der sich umgebracht hatte." Da ist er wieder, der bitter altkluge Witz.

Toto aber rückt zusehends auch noch in die vierte Rolle des gekreuzigten Messias ein. Er hangelt sich als Barkraft an der Reeperbahn durchs Leben, schläft auf versifften Matratzen in fensterlosen Hinterzimmern, nennt nicht mehr als den Inhalt eines Leinenbeutels sein eigen, aber kennt weder Neid noch Bosheit; er verzeiht denen, die ihn anpöbeln und zusammenschlagen, bewährt sich als einziger Freund eines todkranken Kindes ohne Angehörige und fällt, wie es sich für einen Messias gehört, einer arglistigen Verschwörung zum Opfer.

Kasimir, Leidensgenosse aus dem Waisenhaus und jetzt maschinenkalter Erfolgsbanker, trägt einen schwer erklärlichen, existenziellen Hass gegen Toto in seinem steinernen Herzen. Er arrangiert es, dass der immer selbstlose Toto sich bereit erklärt, einem vermeintlichen Dialyse-Patienten eine Niere zu spenden - aber in Wirklichkeit wird ihm dabei von den zynischen Operateuren eine radioaktiv strahlende Sonde in die rudimentäre Gebärmutter implantiert; sie wird ihn langsam aber sicher killen . . . Das heißt, s i e killen, denn bei dieser Gelegenheit findet auch noch, weil man grade dabei ist, eine geschlechtliche Festlegung statt, und der Leser wird etwas konfus mit den Personalpronomina.

Mit einem Wort, die Story ist schlechterdings hanebüchen. Aber Brüche gibt es nicht, Stil, Haltung und Geschehnisse sind, was sich nicht von allen Werken der Gegenwartsliteratur sagen lässt, aus einem unverwechselbaren Guss. Man muss das Buch schon insgesamt annehmen oder verschmähen. Zuweilen schwingt es sich sogar zu erheblichen satirischen Qualitäten auf, etwa wenn es die Landkommunen und die Schwulen- und Lesbenszene der Achtzigerjahre schildert. Das in jener fernen Epoche unumgängliche Ritual des Coming-out beispielsweise gestaltet sich so:

"Der Vater liest die Zeitung, er hält sie verkehrt herum, er will seine Ruhe. Und dann steht der Tim da, die Mutter noch rot von der Kälte, der Vater in Zigarre gehüllt. Ich muss mit euch reden. Ja, Tim, sagt die Mutter, hat das nicht Zeit, bis ich den Kuchen, nein, ich muss jetzt mit euch reden, sagt Tim, jetzt, und ich bin schwul, er schreit fast. Der Vater lässt die Zeitung sinken, er bekommt einen Infarkt, die Mutter sinkt zu Boden, und Tim staunt, zwei unglücklichere heterosexuelle Menschen als seine Eltern kennt er doch nicht, soll das die Lösung sein?"

Man beachte, was hier mit dem Namen passiert: "Tim" für seine Eltern, gibt er sich nunmehr, in seinem wahren, neuen Leben, als "der Tim" zu erkennen; was hier eigentlich sein Coming-out hat, ist der bestimmte Artikel. Das ist sehr fein beobachtet. Doch in der Passage deutet sich auch an, wo trotz allem das Problem des Buches liegt.

Diese Erzählerin besteht darauf, dass sie jederzeit das große Ganze im Griff hat. Sie erzählt ein Stückchen von Totos weiterem Kreuzweg, aber das liefert ihr nur den Vorwand, sich schon wieder zum miserablen Zustand der Welt im Allgemeinen zu äußern. Toto, wenig eloquent, ohne Verständnis für die Vorgänge um sich herum, ohne sexuelle Identität und Aktivität, wird immer nur so weit vorgeführt oder vorgeschoben, wie sich an ihm etwas zeigen lässt, nämlich die Niedertracht der Menschen und die Kaltschnäuzigkeit von Natur und Geschichte. Nicht für sich selbst steht er/sie, sondern dient mit seinem/ihrem ausdrucksarmen Mondgesicht als Galionsfigur des Schmerzensschiffs, mit dem die Autorin Sibylle Berg ihre tiefschwarzen Meere befährt.

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2012. 400 Seiten, 21,90 Euro.

© SZ vom 13.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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