Immer will man was von den Toten. Nützlich sollen sie sein, eingemeindbar. Aber dafür muss man sich nicht schämen. Wir Nachgeborenen investieren schließlich Lebenszeit in sie, richten ihnen Feste und Gedenktage aus, retten ihre Werke vor dem Vergessen. Zum Beispiel die einer Barockdichterin, die mit nur 17 Jahren an der Ruhr starb. Welche Gegenleistung will man also von ihr, dieser Sibylla Schwarz aus Greifswald, 400 Jahre nach ihrem Tod?
Drei Ausgaben erscheinen anlässlich ihres Geburtstags, und eine Graphic Novel reicht der Reprodukt-Verlag im Herbst noch nach. Zwei Interessen sind es, die sich abzeichnen, blättert man durch Sibylla Schwarz' "Deutsche poetische Gedichte", die neu gesetzte Ausgabe von 1650, vom Germanisten Klaus Birnstiel text- und seitenidentisch herausgegeben, legt dann Gudrun Weilands Auswahl "Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden" daneben, um sich schließlich dem ersten Band der ersten Kritischen Ausgabe zu widmen, in die Michael Gratz Jahre seines Lebens gesteckt hat.
Erstens: Sibylla Schwarz soll eine Lücke schließen. Sie soll die Auslöschung rückgängig machen, die eine von Männern bestimmte Literaturgeschichte schreibenden Frauen angetan hat. Sie soll eine weitere "Good night story" für "rebel girls" schreiben, sodass heutige Mädchen mit weiblichen Vorbildern aufwachsen können, die ihnen ihre grenzenlosen Möglichkeiten zeigen.
"Wir wissen es nicht" muss der Refrain einer Annäherung an ihre Gedichte sein
Zweitens: Sie soll historisches Bewusstsein schaffen. Das Bewusstsein dafür, dass die 400 Jahre zwischen ihrer und unserer Lebenszeit kaum zu überbrücken sind, weil heutige Vorstellungen von Kindheit, von den Lebensbedingungen einer Frau, ihrem christlich geprägten Blick auf die Ordnung der Welt, ihren Wünschen und Ängsten nicht einfach übertragbar sind. "Wir wissen es nicht" muss also der Refrain einer Annäherung an ihre Gedichte sein. Was wir wissen: Ein Blick von heute auf ihr Leben und Tun kann ohne Expertenwissen fast nur anachronistisch sein, was aber die Sache nur interessanter macht, weil man so gleich zwei Zeiten reflektiert, die ihre und die unsere.
Karg sind die Daten zum Leben der Dichterin: Geboren nach dem heutigen Kalender am 24. Februar 1621 in Greifswald, als der Dreißigjährige Krieg ins dritte Jahr ging. Die Stadt an der Ostseeküste erreichte er sechs Jahre später mit Wallensteins Truppen, die als Besatzer kamen und später von den Schweden abgelöst wurden. Familie Schwarz, der Vater war Greifswalds Bürgermeister, floh erst aufs Landgut in Frätow, nach dessen Verwüstung dann weiter. Die Mutter starb an der Pest, als die Dichterin neun Jahre alt war.
Und so klingt die Stimme, die sich vor dieser Kulisse Gehör verschaffte: "Mancher weis uns vorzusagen / Viel von seiner Tapfferkeit / Wie er manchen Held erschlagen / Ey es ist der Wahrheit weit! / Katzen meint er nur und Mäuse / Wilde Flöh und zahme Läuse." Man könnte sagen, hier spottet eine und liest dem "unadelichen Adel", an den die hämmernden Verse gerichtet sind, die Leviten: "Hohe Schlösser /dicke Mawren / Grosse Dörffer / Gelt und Gut / Schöne Pferde / reiche Bawren / Das macht euch den grossen Muth; / Nun der Krieg euch das genommen / Müßt jhr zu den Bürgern kommen." Tja, Pech gehabt, Adel. Titel sind out, Leistung kommt in Mode.
Ob man sie historisch oder identifikatorisch liest: Kein Stäublein, nirgends
Man könnte die letzten Verse aber auch als entschuldigende Unterwerfungsgeste verstehen, die zeigt, dass die Dichterin sich eben doch an die Regeln hält. Wie im Karneval setzt das Gedicht den Rahmen, in dem gespottet und kritisiert werden darf. Sibylla Schwarz ist keine Rebellin, sondern folgt den Themen ihrer Zeit und bringt sie in Formen, die durch Martin Opitz und sein "Buch von der Deutschen Poeterey" 1624 standardisiert wurden.
So angestrengt man sie so zu sehen versucht, es nützt nichts. Liest man den berühmten "Gesang wider den Neid", die dialogisch-dynamischen Liebes-Sonette oder das "Christlich Sterbelied", das Schwarz auf dem eigenen Sterbebett noch schrieb, so kann man nicht anders, man möchte der Schriftstellerin Judith Zander folgen, die über das Gedicht "Auß dem Lob einer Nachtmusic" in Michael Brauns Lyrik-Taschenkalender geschrieben hat: "Man kann sich dieses Gedicht auf den Arm tätowieren und damit in den nächsten Club ziehen" oder "dazu kopfüber head over heels im eigenen Kopf tanzen mit der, mit der man gerne tanzen würde."
Da sehen die "nasenrumpfenden Klüglinge" damals wie heute alt aus, die Samuel Gerlach in seiner Vorrede zur Werkausgabe von 1650 in die Ecke stellt, darauf vertrauend, dass die Energie der Gedichte von Sibylla Schwarz sie wegpustet wie nichts. Ob man sich also im Bewusstsein der historischen Distanz in ihren Kosmos begibt oder ihre Texte identifikatorisch und emanzipatorisch liest, klar ist: Kein Stäublein, nirgends. Wen interessiert, wie das nach 400 Jahren möglich sein kann, der lese Marion Poschmanns Essay über die etwas spätere Dichtung von Catharina Regina von Greiffenberg in der Reihe "Zwiesprachen" des Lyrik-Kabinetts München. Welche "ungeheuerliche Geste" und zu heute wahlverwandte Modernität im Formarsenal des Barock stecken kann, erfährt man da.
Die zugänglichste unter den neuen Ausgaben von Sybilla Schwarz ist die von Gudrun Weiland, inzwischen an der HU Berlin, unter dem Titel "Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden" zusammengestellte. Sie eröffnet mit dem "Gesang wider den Neid" und ordnet die Kapitel überwiegend nach Motiven wie Utopie, Freundschaft und Liebe, Weltverachtung. Man tritt sofort ein ins Powerhouse der Sibylla Schwarz und wird auf die Fährte der feministischen Lesart gelockt, der das Nachwort dann gegensteuert. Weiland verzichtet auf Gegenwartsreferenzen und zeigt das Werk der Barockdichterin selbst als gegenwärtig. Den Eindruck irritiert nur der historisierende Schriftsatz. Ansonsten ein guter Einstieg in die politisch-poetische Reaktivierung der Dichterin.
Eigentlich würde man nun denken, in Michael Gratz' Kritischer Ausgabe wird es nüchterner. Weit gefehlt. Das liegt nicht nur am knalligen Einband und dem Einstieg mit Zeilen von heutigen Avantgardistinnen und Avantgardisten wie Dagmara Kraus und Bert Papenfuß, die sich auf Schwarz beziehen. Der 1949 geborene, in Rostock ausgebildete Germanist Gratz, der in Greifswald lehrte, beweist die visuelle Kreativität Kritischer Ausgaben durch zueinander versetzt über die linken Seiten tanzende Marginalspalten, die eher Partituren als wissenschaftlichen Kommentaren gleichen und definitiv Sehgewohnheiten brechen: "Wir lesen langsamer und wer weiß, verstehen dafür schneller?"
Der Ton seiner Ausgabe ist persönlich, flirtet mit dem Gestus barocker Leseransprache und driftet zuweilen in eine Art lässigen Hausbesetzer-Jargon ab. So nennt Gratz die Zusammenkunft von Saturnus, Mulciber, Pluto und Mars in den Gedichten von Schwarz "so etwas wie den 'Militärisch-Industriellen Komplex' der Antike". Das muss man mögen. Hilfreich ist die kleine Versschule in seinen Anmerkungen. Anderes ist dagegen nicht einfach zu verstehen, zum Beispiel wenn im Vorwort mit einiger Plötzlichkeit und dafür umso schärferer Wertung der arme Samuel Gerlach eingeführt wird, dessen Ausgabe keine Gnade findet vor Gratzens Augen: "Vorliegende Ausgabe", also seine eigene, "bietet das bisher nur ungeordnet und mit Druckfehlern entstellt vorhandene Werk nach Gattungen geordnet."
Dieser Ordnungstrieb dürfte wiederum dem Greifswalder Kollegen Klaus Birnstiel nicht behagen, der sich auch um die Rehabilitierung des ersten Herausgebers bemüht, der übrigens als Hauslehrer unter Sybilla Schwarz' Dach kam. Samuel Gerlachs "Unordnung" liest Birnstiel als bewusste Inszenierung von weiblicher Autorschaft avant la lettre. Einen starken Eindruck macht ja auch, dass Gerlach nach Vorreden und Briefwechsel sofort den "Gesang wider den Neid" bringt, dessen kritischer Impetus an Aktualität weniger eingebüßt hat als die Todsünde des Neids an Schrecken.
Gratz hingegen lässt auf die Briefe die Sonette folgen, die Motive wie Freundschaft und Liebe behandeln, ganz regelkonform. Wobei Klaus Birnstiel daran erinnert, dass das Idol von Sibylla Schwarz, Martin Opitz, keineswegs ein Prinzipienreiter war, sondern die deutschsprachige Dichtung revolutioniert hat. Der heutige Blick dafür ist immer noch durch die Autonomieästhetik verstellt. Kurz, das kritische Nachwort von Klaus Birnstiel ist - ohne den zweiten Band der Kritischen Ausgabe von Michael Gratz zu kennen, der Interpretationen und ausführliche Anmerkungen liefern wird - ein Muss. Er hält die größte Distanz, klärt über die Rezeptionsgeschichte auf und erläutert, inwiefern die Forschung in Bezug auf Sibylla Schwarz oft mit "ungedeckten Schecks" handelt und welche Traditionen und Traditionsbrüche für den fremdartigen literarischen Kosmos wichtig waren, in dem Sibylla Schwarz schrieb. Man merkt - und das ist beglückend -, alle drei Ausgaben sind auf ihre Art enthusiastische, auch verlegerische Großtaten.
Das letzte Wort aber der Dichterin, damals adressiert an den Neid, heute frei zu beziehen auf die "Klüglinge" unserer Epoche: "Jch weiß / es ist dir angebohren / Den Musen selbst abholt zu sein / Doch hat mein Phoebus nie verlohren / Durch deine List / den hellen Schein."