Serie: "Welt im Fieber":Die Panik von heute ist die Vorsicht von morgen

Lesezeit: 2 min

Im Winter wenig los am Strand von Truro nahe Provincetown. (Foto: AP)

An der Spitze von Cape Cod könnte der ideale Ort sein, um eine Pandemie zu überstehen. Aber dann kamen die Städter. Die Chronik von sechs Literaten in der ganzen Welt: heute aus den USA.

Gastbeitrag von Kristen Roupenian

Ich lebe in Provincetown, Massachusetts, an der Spitze von Cape Cod, wo meine Verlobte, Callie, ein Schreibstipendium hat. Mein Vater ist ein verrenteter Arzt, und als er uns besuchen kam, unmittelbar bevor alles geschlossen wurde, sagte er, dies sei der perfekte Ort, um eine Pandemie heil zu überstehen. Normalerweise ist es eine Touristenstadt - leer im Winter, überfüllt im Sommer. Wir sind weit von der Stadt entfernt, es gibt viel Platz, um nach draußen zu gehen und sich zu bewegen, trotzdem sind Lebensmittelgeschäfte, Apotheken und so weiter in unmittelbarer Nähe. Als es allerdings ernst wurde, kamen die Leute aus der Stadt, die hier Sommerhäuser besitzen, und brachten das Virus mit. Wir hatten schon 15 Fälle in einem Ort mit wenigen medizinischen Einrichtungen, und es gab einige verständliche Spannungen. Aber bis jetzt geht es uns soweit gut.

Wie fast überall im Land herrschen in Massachusetts Ausgangsbeschränkungen. Alle nicht essenziellen Unternehmen sind geschlossen und man soll nicht grundlos reisen, aber man darf noch das Haus verlassen, um spazieren zu gehen und solche Sachen, solange man zu den anderen sechs Fuß Abstand hält. Callie und ich arbeiten ohnehin von zu Hause und die meisten Läden und Restaurants in der Gegend waren noch in der Winterpause, deshalb hat sich unser Alltag nicht ungeheuer verändert. Aber vor drei Wochen musste Callies Mutter mit Verdacht auf Herzinfarkt ins Krankenhaus. Callies Eltern leben in Texas, mein Vater und mein Bruder in Alaska, meine Schwester und ihre Familie sind in New York City, und zu der Zeit reiste meine Mutter im Wohnmobil durchs Land. Wir mussten uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass wir wegen der Distanz- und Quarantäneregeln wahrscheinlich nicht bei unseren Liebsten sein können, wenn sie krank werden.

Die ersten Tage des Shutdowns, in denen wir nicht herausfinden konnten, ob einer von ihnen sich mit dem Virus angesteckt hatte, oder was wir tun würden, falls es so wäre, gehören zu den unheimlichsten meines Lebens. Aber Callies Mutter wurde mittlerweile entlassen und erfreut sich guter Gesundheit, und alle bleiben zu Hause und treffen Vorsichtsmaßnahmen, weshalb die unmittelbare Angst einer unterschwelligen Besorgnis gewichen ist. Ich vermisse meine Familie und meine Freunde, aber ich schaffe es, mich auf die Bereiche zu konzentrieren, in denen wir Glück haben: Wir können arbeiten, wir haben eine Unterkunft , und wir haben einander.

Ich halte mich an sämtliche Regeln, es ändert sich nur alles so schnell. Was gestern noch wie ein panischer Exzess wirkte - die Desinfizierung der Post oder das Tragen einer Maske im Lebensmittelgeschäft - ist heute schon eine allgemein anerkannte Vorsichtsmaßnahme. Vor einem Monat habe ich zwei Pferde entdeckt, die auf einer Weide auf dem Naturwanderweg hinter unserem Haus gehalten werden. Ich habe angefangen, sie zu besuchen, sie mit Karotten zu füttern und mich mit ihnen anzufreunden. Ihren Besitzern bin ich nie begegnet oder sonst irgendjemandem in der Gegend.

Aber dann begann ich, mir Sorgen zu machen, ich dachte: "Was, wenn ich das Virus habe und es nicht weiß, und dann bleibt das Virus an der Mähne des Pferdes hängen und dann reitet der Besitzer das Pferd und wird krank und es ist meine Schuld ..." Also statt die Pferde zu streicheln, gebe ich ihnen ihre Möhren jetzt aus der ausgestreckten (gewaschenen) Handfläche und beobachte sie dann aus der Distanz. Vielleicht wird schon nächste Woche auch das zu riskant sein. Aber trotz - oder wegen - dieser Unsicherheit sind die Pferde im Moment der beste Teil meines Tages.

Kristen Roupenian, geboren 1982 in Plymouth, ist eine amerikanische Schriftstellerin. Auf Deutsch erschien zuletzt "Cat Person. Storys" (Blumenbar, 2019). Aus dem Englischen von Felix Stephan.

© SZ vom 11.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: