Serie: Was ist deutsch?:Deutschland muss religiöse Zumutungen ertragen

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Zur Demokratie gehören Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit - inklusive Religionskritik. Das sollte so bleiben.

Von Horst Dreier

Zu den schrecklichsten, härtesten und längsten Kriegen, die Europa und besonders Deutschland verwüstet haben, zählen die im Gefolge der Reformation ausbrechenden konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts. Wie wurden diese Konflikte beigelegt? Die Friedensschlüsse in Augsburg, Münster und Osnabrück beruhten nicht etwa auf der Einsicht in die Unlösbarkeit der religiösen Wahrheitsfrage mit entsprechender Freigabe des Bekenntnisses für alle, mit der Gewährung umfassender Religionsfreiheit und - die andere Seite der Medaille - mit dem Rückzug des Staates auf eine religiös neutrale Position.

Ein König, ein Gesetz, ein Glaube

Es war vielmehr, wie der Augsburger Religionsfrieden von 1555 deutlich zeigt, gerade und allein der Gedanke strikt geschlossener konfessioneller Homogenität der Territorien, der den Frieden in den verschiedenen Herrschaftsgebieten sichern konnte. "Cuius regio, eius religio" bedeutete, dass der Territorialherr den konfessionellen Status seines Gebietes und seiner Untertanen bestimmte. Hinter diesem sogenannten Religionsbann stand die von den Herrschern wie von den Staatstheoretikern geteilte Überzeugung, dass ein Land bei Zulassung verschiedener Glaubensrichtungen bald aufgrund innerer Zwistigkeiten dem Verfall preisgegeben sein würde. Stabilität versprach einzig das strikte Festhalten am Grundsatz "un roi, une loi, une foi" - ein König, ein Gesetz, ein Glaube.

Der Erfolg gab im Übrigen den führenden europäischen Staaten des 16. bis 18. Jahrhunderts recht, die durchweg streng auf konfessionelle Homogenität achteten. Für Spanien und England liegt das auf der Hand, in Frankreich blieb die Tolerierung der Hugenotten ein Zwischenspiel.

Das größte Problem: geschlossene Milieus mit ausgeprägtem Kränkungspotenzial

Von dem Grundgedanken notwendiger Glaubenshomogenität als Voraussetzung für staatliche Stabilität löste sich auch der Westfälische Frieden von 1648 nur punktuell. Zwar nötigte die Fixierung des Status quo des "Normaljahres" 1624 den Landesherrn nunmehr dazu, auch konfessions-verschiedene Untertanen zu dulden - und ihnen nicht nur wie noch 1555 lediglich die Auswanderung gestatten zu müssen.

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Aber gerade die darüber hinausgehende Zulassung der Hausandacht für andersgläubige Christen indiziert, dass es in den Territorien weiterhin eine jeweils dominante Staatskirche gab. Die Möglichkeit öffentlicher Präsenz Andersgläubiger mit womöglich demonstrativer Zurschaustellung ihrer Andersartigkeit sah man als Gefährdung der staatlichen Sicherheit und Ordnung an.

Es bedurfte eines langen Entwicklungs- und gewaltigen Zivilisationsprozesses, um diese (im Grunde bestechend einfache) Logik der stabilitätsverbürgenden Kraft religiös und konfessionell homogener Gemeinwesen zu überwinden und den Gedanken ertragen und vielleicht sogar lieben zu lernen, dass Bürger in einem Staat gleiche Rechte genießen, auch wenn sie unterschiedlichen Glaubensbekenntnissen beziehungsweise areligiösen oder gar antireligiösen Weltanschauungen anhängen.

Die Freiheit zum Glauben

Es war dies die Arbeit von Jahrhunderten, in denen sich die Entwicklung vom streng geschlossenen Konfessionsstaat des 16./17. Jahrhunderts über die Zulassung von Parität zwischen den Bekenntnissen im 18./19. Jahrhundert bis hin zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des säkularisierten Staates mit umfassender Religions- und Weltanschauungsfreiheit im 20. Jahrhundert vollzog.

Einen frühen Meilenstein auf diesem Weg markierten die religionsspezifischen Regelungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 mit gleichen Rechten für die drei anerkannten Konfessionen (katholisch, evangelisch, reformiert), Tolerierung der Sekten und der Möglichkeit freien Aus- und Übertritts zwischen den Religionsgesellschaften. Freilich gab es noch keine Freiheit vom Glauben, sondern nur zum Glauben, und auch die staatliche Kirchenhoheit war noch ungebrochen.

Ein wirklich konsequent modernes Programm formulierte erst die - politisch gescheiterte - Paulskirchenverfassung von 1848/49: volle Glaubens- und Gewissens-freiheit, Garantie der unbeschränkten gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Ausübung der Religion (die sogenannte Kultusfreiheit), freie Bildung von Religionsgesellschaften ohne vorherige Anerkennung durch den Staat, keine Staatskirche. Vollständig umgesetzt wurde dieses Programm in der Weimarer Reichsverfassung.

Die mit ihr gegebene Rechtslage hielt ihr bedeutendster Kommentator, Gerhard Anschütz, im Jahre 1932 mit folgenden Worten fest: "Religionsfreiheit ist die dem Individuum gewährleistete rechtliche Möglichkeit, sein Verhältnis zu allen religiösen Fragen nach Belieben gestalten, seinen religiösen, irreligiösen, antireligiösen Überzeugungen gemäß leben zu dürfen, alles tun zu dürfen, was diese Überzeugungen fordern, alles unterlassen zu dürfen, was sie verbieten, in allen Beziehungen frei zu sein von staatlichem Zwang, - aber unter dem Vorbehalt des Gehorsams gegen die allgemeinen Staatsgesetze."

Das Grundgesetz schließt sich eng an Frankfurter und Weimarer Vorbilder an und stellt dem tradierten religiösen Bekenntnis nun explizit und gleichberechtigt das weltanschauliche an die Seite. Der Gesamtvorgang ist von bemerkenswerter Konsequenz, ja Radikalität, zumal am Ende ein und dieselbe Grundrechtsgarantie für die Ausfüllung im religiösen Geist genauso offen steht wie für seine Negation. Der Glaube wird ebenso geschützt wie der Unglaube, Aberglaube oder Irrglaube, ebenso wie die Glaubenslosigkeit oder die Glaubensfeindschaft.

Allerdings hielten sich die tatsächlichen zentrifugalen Wirkungen einer solchen umfassenden, ja nachgerade beliebig wirkenden Freisetzung aller möglichen religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse lange Zeit faktisch in eher engen Grenzen. Denn der normativ unbegrenzten Religions- und Weltanschauungsfreiheit korrespondierten stabile und klar strukturierte tatsächliche Verhältnisse.

Der Rückzug der Religion in Westeuropa

Die Gewährleistung umfassender Freiheit der Religionen und Weltanschauungen, theoretisch eine unbegrenzbare Vielfalt umfassend, bedeutete ursprünglich kaum mehr als die verfassungsrechtliche Grundlegung der Bi-Konfessionalität. So gehörten im Jahre 1950 mehr als 90 Prozent der (gesamt-)deutschen Bevölkerung der römisch-katholischen oder einer evangelischen bzw. reformierten Kirche an.

Im Bundesgebiet blieb es bis in die 1980er-Jahre hinein bei der zahlenmäßigen Vormachtstellung der christlichen Kirchen. Doch haben sich in den letzten Jahrzehnten dramatische Veränderungen ergeben. So lag der Anteil Konfessionsloser an der Gesamtbevölkerung im Jahre 2010 bei mehr als dreißig Prozent. Das spiegelt einmal den in ganz Westeuropa zu verzeichnenden Rückzug der Religion im Sinne der sinkenden Bindung der Bürger an eine bestimmte Religionsgesellschaft wider, vom Religionssoziologen José Casanova als "decline of religious beliefs" bezeichnet.

Speziell im Falle der Bundesrepublik kommt hinzu, dass sich der Anteil religiös vollständig ungebundener, zum Teil dezidiert atheistischer Bürger nach der Wiedervereinigung deutlich erhöht hat. Den gravierendsten Faktor aber bildet zweifelsohne die Einwanderung einer großen Zahl zum Teil sehr religiöser Menschen muslimischen Glaubens. Durch die Entwicklung Deutschlands von einem bikonfessionellen zu einem multireligiösen und vor allem auch multikulturellen Gemeinwesen hat sich die Lage dramatisch verändert, sind vermeintliche Selbstverständlichkeiten weggebrochen und stillschweigende Einverständnisse entfallen.

Glaubens- und Kulturkonflikte

Insbesondere hat diese Entwicklung zu einer qualitativ wie quantitativ erkennbaren Steigerung entsprechender Glaubens- und Kulturkonflikte geführt, die über kurz oder lang auch die Rechtsordnung herausforderten: Schächten, Kopftuch, Schwimmunterricht für muslimische Mädchen oder der Streit um die vermeintliche Beleidigung des Islam durch Karikaturen oder Operninszenierungen mögen als Stichworte genügen.

Die vielfältigen Konfliktzonen und Konfliktherde stellen die Fähigkeit, Pluralität in Glaubensfragen mit all ihren Konsequenzen zu ertragen, auf eine schwere Probe, zumal es nicht nur um das Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten geht, sondern sich Religion in Deutschland in einem Verfassungsstaat entfaltet, der Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit garantiert. Denn dass davon auch die bis hin zur Karikatur und zur Satire reichende Kritik der Religion umfasst ist, zählt zum genetischen Code moderner freiheitlicher Verfassungsstaatlichkeit in Europa.

Die Akzeptanz dieses Umstandes scheint zumal dort schwierig zu sein, wo geschlossene kulturelle Milieus mit geringer Toleranzfähigkeit und ausgeprägtem Kränkungsfetischismus existieren, die jede Infragestellung des eigenen Glaubens oder Kritik an ihm als massiven Angriff auf die eigene Identität und als unerträgliche Zumutung betrachten.

Natürlich kann es verstörend sein, ein multireligiöses Gemeinwesen zu erleben, in dem auch die Glaubenssätze der jeweiligen Gemeinschaft zum Gegenstand inhaltlicher Kritik, spitzer Satire oder frecher Kommentare gemacht werden - gerade wenn man aus Staaten kommt, in denen umfassende Religionsfreiheit unbekannt ist und eine religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates unvorstellbar wäre.

Eine Operninszenierung darf nicht abgesetzt werden, weil Gläubige ihre Religion verunglimpft sehen

Der freiheitliche Verfassungsstaat des Grundgesetzes lebt aber davon, dass derartige Zumutungen ertragen und ausgehalten werden - und er wird nur fortbestehen, solange das geschieht. Das ist der Preis für die gleiche Freiheit aller in einer pluralen Lebenswelt. Es gilt der prinzipielle Vorrang der Freiheit. Wenn Muslime sich im Fall einer umstrittenen Operninszenierung über die angebliche Verhöhnung ihrer Religion empören, so ist das ihr Recht. Aber klar muss sein, dass deshalb die Oper nicht verboten oder abgesetzt werden darf. Nicht die empörten Mitglieder der Religionsgemeinschaft sind vor der Aufführung der Oper zu schützen (niemand zwingt sie ja zum Besuch), sondern die Opernaufführung vor Störern. Zur verfassungsstaatlich gewährleisteten Freiheit gehört auch die geistige Provokation Dritter.

Der offene, kritische, plurale Meinungsbildungsprozess macht vor den Religionen nicht halt und findet in Deutschland derzeit seine definitive Grenze erst im Straftatbestand des § 166 des Strafgesetzbuches (friedensstörende Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen). Die Definitionsmacht über die Grenzen der Freiheitsausübung liegt dabei nicht bei den besonders empfindlichen Betroffenen: Ihr Kränkungseifer hätte es sonst in der Hand, die Freiheitsausübungen Dritter ins Unrecht zu setzen. Niemand hat in einem pluralistischen freiheitlichen Gemeinwesen einen Anspruch darauf, bestimmte ihm lästige oder widerwärtige Dinge nicht zu sehen oder zur Kenntnis nehmen zu müssen.

Am Wahrheits-, Verbindlichkeits- und Ausschließlichkeitsanspruch des eigenen Glaubens festzuhalten und zugleich zu akzeptieren, dass andere Glaubensrichtungen mit der gleichen Vehemenz an dem ihren hängen, verbunden mit der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates und - drittes Moment - dem Umstand, dass in einer freiheitlichen Demokratie auch die Religionen zum Gegenstand von Kritik, Satire und Spott werden können und dürfen - das sind große historische Errungenschaften des modernen Verfassungsstaates. Sie als festen Besitz zu sichern hat Zeit und Opfer gekostet. Darin, diese Errungenschaften auch unter Bedingungen verschärfter gesellschaftlicher Pluralität, der Ausbildung unterschiedlichster kultureller Milieus bis hin zu Parallelgesellschaften und gesteigerter religiöser Heterogenität zu bewahren und Konflikte friedlich auszutragen, besteht die große Aufgabe. Sie ist durch die Ereignisse der letzten Monate nicht leichter geworden.

Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: der Soziologe Stephan Lessenich. (Foto: SZ-Grafik)
© SZ vom 27.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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