"Wir wollen nicht in des Gesellschaft sterben / Der die Gemeinschaft scheut mit unserm Tod." Nein, das ist kein virologischer Kommentar aus der Intensivmedizin. Es sind heroische Worte eines Königs vor der Schlacht. Der König ist der Meinung: Wer sich nicht traut, mit uns zu kämpfen, den brauchen wir hier auch gar nicht dabei zu haben.
Dieser krasse Hochmut hat eine Funktion: Er soll die zuhörenden Soldaten motivieren, die Angst haben. Es ist Englands König Heinrich V., der hier in William Shakespeares gleichnamigem Stück zu seinen besorgten und geschwächten Männern spricht, vor dem Kampf gegen die Franzosen in der Schlacht von Azincourt im Jahr 1415.
Es ist wohl die berühmteste Feldherrnrede der Literaturgeschichte. Sie ist vor allem aus zwei Gründen meisterhaft, weswegen es sich lohnt, sie zu lesen oder zum Beispiel in der Verfilmung von und mit Kenneth Branagh von 1989 anzusehen: Erstens lässt Shakespeare sie erst langsam zu einer Rede an die gesamte Truppe und Nation anschwellen, sie beginnt zunächst "unten", im Dialog im verunsicherten Getuschel des Feldlagers, als spontane Antwort auf eine defätistische Bemerkung, die der König scheinbar zufällig mitgehört hat. Praxis und Pathos greifen so sehr suggestiv ineinander.
Und zweitens vermittelt diese "Sankt-Crispins-Tag-Rede" (benannt nach dem Heiligen des Tages) musterhaft genau dasjenige Gefühl, das derzeit auch alle motivierenden Reden angesichts des Coronavirus beschwören: Wenn alles vorbei ist, werden wir stolz auf uns sein! Der Sieg wird, bevor es überhaupt anfängt schlimm zu werden, schon vorweggenommen. Heinrich V. dreht damit die Stimmung: Später wird man begeistert, ja neidisch auf diese tapfere Schar zurückblicken; wer dabei war, wird seinen Nachbarn am Jahrestag seine Narben zeigen. Und dieser antizipierte Stolz gipfelt in dem berühmtesten Vers: "Wir wenigen, wir glücklichen wenigen, wir Haufen von Brüdern" ("We few, we happy few, we band of brothers").
Als Topos in Film und Fernsehen nennt man eine solche Szene eine "rousing speech", eine wachrüttelnde Ansprache. In scheinbar aussichtsloser Lage erhebt ein entscheidender Akteur die Stimme und fordert Opfer für ein höheres Gut. Der Soundtrack legt meistens einen erhabenen, leicht vibrierenden Streicherteppich darunter, und dann kippt die Erregung der Menge, bis alle mit Tränen in den Augen trotzig jubeln. Wer will, kann sich im Netz durch solche Reden klicken: Der amerikanische Präsident spricht in "Independence Day" vor dem Angriff auf die Außerirdischen: "Wir kämpfen für unser Recht zu leben!" Oder Russell Crowe in "Gladiator", Mel Gibson in "Braveheart" oder auch Cate Blanchett als Elisabeth I., die beim Anrücken der Spanischen Armada ausruft: "Ich weiß, ich habe den Leib einer schwachen, kraftlosen Frau, aber ich habe das Herz und das Mark eines Königs, und noch dazu eines englischen Königs!"
Gut, jetzt müssen wir zugeben: In der Feldherrenrede bei Shakespeare steckt vieles, was ideologiekritisch als verwerflich anzusehen ist. Männerbünde, Kriegsverherrlichung und Opferkult rund um den süßen Tod fürs Vaterland, anti-kontinentaler Nationalismus - ein immer wieder ausgenütztes Gefühl, bis hin zum Brexit - sowie auch der Missbrauch der Religion zwecks Berufung auf eine göttliche Sendung. "Heinrich V." ist das Kriegs-Stück schlechthin, eine berühmte Fassung mit Laurence Olivier wurde 1944 zur Steigerung der britischen Kampfmoral im Zweiten Weltkrieg gedreht - während ja jetzt Angela Merkels Corona-Rede zu Recht dafür gelobt wurde, dass sie auf Kriegsmetaphern verzichtete. In einer anderen Szene des Stücks droht Heinrich V. mit grässlichen Gräueltaten.
Aber Shakespeare ist ein Dramatiker, kein Moralist. Ganz am Ende des Stücks erklärt der Chor, dass der Sohn des Königs, Heinrich VI., im weiteren Verlauf des Hundertjährigen Krieges Frankreich wieder verlieren wird, der ganze Heroismus also eigentlich für die Katz war. Sorry.