Noch bevor die Wahrheit dem Krieg zum Opfer fällt, stirbt die Differenzierung. Das musste jetzt der international gefeierte ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa erfahren - die ukrainische Filmakademie, also die eigenen Leute, haben ihn vor zwei Tagen aus ihren Reihen ausgeschlossen. Zur Begründung hieß es, Loznitsa sehe sich laut eigenen Erklärungen als "Kosmopolit" in einer Zeit, in der jeder Ukrainer die "nationale Identität" verteidigen müsse. Da könne es "keine Kompromisse oder Halbtöne" geben.
Hat sich der in Berlin lebende Filmemacher, der für den bitteren Kriegsfilm "Donbass" etwa den Prix Un Certain Regard in Cannes gewonnen und auch die ukrainische Revolution 2014 mit dem Dokumentarfilm "Maidan" begleitet hat, etwa putinfreundlich geäußert?
Keineswegs, im Gegenteil, man lese nur sein Statement vom 27. Februar, drei Tage nach Kriegsbeginn: "Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat, ist ein wahnsinniger und suizidaler Akt, der zum unausweichlichen Kollaps des kriminellen russischen Regimes führen wird. Die ganze Welt wird Zeuge einer Schlacht zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, einer Schlacht von biblischen Ausmaßen. Die Ukraine wird siegen!"
"Ein Geschenk für die Propaganda des Kremls."
Anschließend trat Loznitsa wütend aus der Europäischen Filmakademie aus, als diese nicht auf Anhieb eine Position gegen den Krieg fand, die ihm angemessen erschien. In der Folge sprach er sich allerdings dafür aus, nicht unterschiedslos alle russischen Filmemacher zu boykottieren - jene, die sich gegen das Putin-Regime stellten, hätten weiter die Unterstützung des Westens verdient.
An eine flammend patriotische Position eine gewisse Differenzierung anzuhängen, was russische Künstler betrifft - selbst dieser Akt scheint nun für seine Kollegen, die im Bombenhagel in der Ukraine ausharren, nicht mehr akzeptabel zu sein - daher der Ausschluss. Der auch noch mit dem Vorwurf unterfüttert ist, Loznitsa habe seine Werke von einem französischen Filmfestival nicht zurückgezogen, das Filme aus allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion zeigen will.
In seiner Antwort auf den Rausschmiss, die er in Form eines offenen Briefes verfasst hat, empört sich Loznitsa darüber, dass der Begriff "Kosmopolit" in seiner Heimat nun wieder als Schimpfwort verwendet werde - das sei ein Rückfall in die schlimmsten Zeiten des späten, antisemitischen Stalinismus. Was propagiere die ukrainische Filmakademie denn jetzt, fragt er und antwortet: "Nicht eine zivilisierte Haltung, nicht den Wunsch, alle zurechnungsfähigen und freiheitsliebenden Menschen im Kampf gegen die russische Aggression zu vereinigen, nicht die internationale Anstrengung aller demokratischen Länder, diesen Krieg zu gewinnen - sondern 'nationale Identität'. Unglücklicherweise ist dies Nazitum. Ein Geschenk für die Propaganda des Kremls."
Er werde, schreibt Sergei Loznitsa in seinem Brief, "immer ein ukrainischer Filmemacher bleiben", und schließt: "Ich hoffe, dass wir alle in diesen tragischen Zeiten unseren common sense bewahren können."