Scorpions:"Und hierzulande nimmt kein Arsch Notiz davon"

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Rudolf Schenker im Dezember 2012 in der Olympiahalle in München - bei einem der "letzten" Konzerte der Scorpions. (Foto: dpa)

Die "Scorpions" sind Superstars in aller Welt, nur in Deutschland nicht. Unterwegs mit Musikern, die sich noch immer etwas beweisen müssen.

Von Harald Hordych

Die große Bar im Park Inn Hotel in Ostrava ist an diesem Abend voll mit jungen Männern. Gerade läuft die europäische Baseball-Clubmeisterschaft und Athleten aus acht Ländern sind im Park Inn untergebracht. Es sind auch ein paar weibliche Fans da, aber seltsam, die attraktiven jungen Sportler und die attraktiven jungen Frauen kommen nicht zusammen. Paulina und Renata warten auf jemand anderen - der sich partout nicht blicken lässt. Was können schon junge Sportler ausrichten, wenn es eine winzige Chance gibt, 70-jährige deutsche Rockstars zu treffen?

Die Polin Paulina Gens und die Tschechin Renata Dardova sind glühende Fans der Rockband Scorpions. Seit die Frauen vor neun Jahren beim Londoner Auftritt zufällig nebeneinander standen, besuchen sie jedes Konzert gemeinsam, wenn die Reise einigermaßen bezahlbar ist. Polen und Tschechen - das ist kein ungetrübtes nachbarschaftliches Verhältnis. Ausgerechnet eine deutsche Band macht diese grenzüberschreitende Freundschaft möglich.

Selten haben sich Rockstars so unverblümt über mangelnde Liebe in der Heimat beklagt

Neun Jahre? Die Scorpions dürfte es doch seit acht Jahren gar nicht mehr geben! 2010 hatte die Band ihre Abschiedstournee gestartet. "Get your Sting and Blackout" wurde zu einer dreijährigen Endlostour durch Europa, Russland, Asien und Amerika. Vor fünf Jahren verwandelte sich ihre letzte Reise in eine "Wir-machen-immer-weiter-Tournee". Und voriges Jahr starteten sie im ausverkauften Madison Square Garden in New York ihre x-te Welttournee. Nicht in kleinen Klubs, sondern in großen Hallen wie heute Abend in der Eissporthalle von Ostrava, früher: Mährisch Ostrau, an der Grenze zwischen Tschechien und der Slowakei. Die Halle ist rappelvoll mit 8000 Zuschauern. Unter ihnen sehr viele Menschen zwischen 30 und 40.

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Der Mandolinist Chris Thile macht mit den Punch Brothers Bluegrass, den die Pop-Schlaumeier hassen werden. Lori McKenna, Wild Pink und Ty Segall kämpfen gegen die Ungerechtigkeit der Welt an - sehr unterschiedlich.

Die Halle ist riesig, der Boden kalt, Beton, auf dem sonst eine Eisfläche liegt, und die Scorpions liefern ein blitzsauberes Rockkonzert ab. Dabei geht es ja um das Erzeugen einer Musik, die klingt, als könnte sie einen zerquetschen, so rückt sie einem auf die Pelle, das Klirren der Gitarren, das tiefe Dröhnen des Basses, das Hämmern des Schlagzeugs, dem man nicht entkommen kann. Fett ist das am häufigsten gebrauchte Wort, um den Sound von Rockmusik zu charakterisieren, kein Wunder, denn Fett ist die energiereichste Nahrungssubstanz. Über dem Lärmfett der Scorpions liegt verblüffend klar, durchdringend und alterslos die Stimme des 70-jährigen Klaus Meine. Gutes deutsches Handwerk, gradlinig, präzise. Oft zuckerig melodiös, bedeutungsschwanger, nicht selten sentimental. Aber immer bejubelt in Ostrava.

Bei "Wind of Change" fließen Tränen.

Hatte nicht schon 2008 der Spiegel gefragt: "Die Band will nach rund 40 Jahren nicht ans Aufhören denken. Warum bloß?"

Nun sind mehr als fünfzig Jahre vergangen, seit die Scorpions 1965 als Schülerband von Rudolf Schenker in Hannover gegründet wurden. 1969 holte er den Schaufensterdekorateur Klaus Meine ans Mikro. Mehr als 100 Millionen Tonträger hat die Band verkauft. Eine Zahl, die in Deutschland nur mit Kopfschütteln registriert wird. Denn die Scorpions sind die großen Unverstandenen der deutschen Popmusik. In Los Angeles erklärte voriges Jahr der Stadtrat den 6. Oktober zum "Scorpions Day", weil die Band dort drei Alben aufgenommen hat. In Spanien wurde eine Straße nach ihnen benannt. Sie haben mehr als 5000 Konzerte in 80 Ländern gespielt. Und in Deutschland?

Es fällt auf, dass bei der langen Liste von Auftritten 2018 allein sieben in den USA, aber nur drei in Deutschland sind: am 25. Juli in Schloss Salem, am 27. Juli in Ludwigsburg und am 3. August in Bad Kissingen. Wenn sie in England spielen, dann in der Londoner O2-Arena, in Italien in der Arena von Verona.

Die Deutschen haben sich im Grunde immer für die Männer aus Hannover geschämt, die nie aufgehört haben, amerikanischen Heavy-Metal-Bands mit schlichten Englischtexten nachzueifern. Und daran halten sie eisern fest. Auch bei der Feier zum zehnjährigen Bestehen des Gitarrenladens von Leadgitarrist Matthias Jabs in München werden die Ansagen nur in Englisch gemacht. Allein schon, weil selbst aus Griechenland viele Fans angereist sind.

Wer jetzt denkt, Erfolg mache immun gegen fehlende Anerkennung, der irrt. 1988 gaben sie nach ihrem Leningrad-Gastspiel ein Interview, in dem sie sich über das deutsche Desinteresse ausließen. Rudolf Schenker sagte: "Überleg doch nur mal: Da geht eine Band aus Deutschland nach Russland, spielt dort so und so viele Konzerte, und hierzulande nimmt kein Arsch Notiz davon." Und Klaus Meine ergänzte: "Wenn Udo Lindenberg einen Furz in Ostberlin lässt, horcht hier gleich jeder auf. Wenn wir aber zehn Konzerte vor insgesamt 150 000 Zuschauern geben, ist das den hiesigen Medien nicht mal eine Meldung wert."

Selten haben sich Rockstars, die ihr Ding durchziehen, so unverblümt über mangelnde Liebe in der Heimat beklagt.

Andere wollen Angst machen mit ihrer Musik. Die Scorpions setzen auf Versöhnung

Man muss an die Bands denken, die bald nach den Scorpions um 1968 und 1969 gegründet wurden, die größten Bands des Heavy Metal: Black Sabbath, Deep Purple, Led Zeppelin, Nazareth und Uriah Heep. Die Scorpions befanden sich in bester unbürgerlicher Gesellschaft, als sie die Lederklamotten überstreiften, die Haare wachsen und machohafte Plattencover entwerfen ließen. Aber diese Bands sangen original Englisch und traten rücksichtsloser auf. Black Sabbath benannten sich nach einem Horrorfilm, weil die Briten mit ihrer Musik Angst machen wollten.

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Die Scorpions wollen bei ihren Konzerten versöhnen. Klaus Meine wirft Schlagstöcke als Geschenk ins Publikum wie der Karnevalsprinz Bonbons am Rosenmontag. Die Menschen begrüßt er so: "Tonight I am happy to sing for you - from the bottom of my heart." Wenn Lemmy Kilmister von Motörhead ans Mikro trat und mit seiner versoffenen Stimme krächzte: "We are Motörhead. And we play Rock 'n' Roll!" war das eine Kriegserklärung. Rock kann schmutzig sein, bei den Scorpions ist er eher wie Softporno ohne Altersbeschränkung.

Paris. Gegen Mitternacht. Klaus Meine, 70, Rudolf Schenker, 69, und Matthias Jabs, 62, sitzen in einem großen Privatsalon eines der schönsten Hotels der Stadt. Im Bristol auf der Rue du Faubourg-Saint-Honoré geben Hollywoodstars gerne Interviews. In Ostrava sind der Rudolf, der Klaus und der Matthias sofort auf ihre Zimmer verschwunden, nachdem die schwarzen Mercedes-Limousinen mit dem VIP-Kennzeichen sie zum Park Inn gefahren hatten. Aber nach Paris sind auch die Lebenspartnerinnen mitgekommen. Die Scorpions feiern den Auftritt in einer der größten Hallen Europas - vor 18 000 Zuschauern? Oder waren es 20 000? War jedenfalls richtig voll.

An dem riesigen Tisch sitzen ein paar Vertraute, darunter der Tourmanager Alex, der sich um alles kümmert, was die anderen bis zu 150 Mitarbeiter nicht hinkriegen. Die Atmosphäre ist gedämpft wie beim Jahres-Meeting eines mittelständischen Unternehmens - wenn die Chefs nicht wie Hells Angels de luxe aussehen würden. Die Weinkarte ist so groß wie die Gutenberg-Bibel, so groß jedenfalls, dass der eloquente Matthias Jabs einen Moment um Fassung ringt, dann aber in fabelhaftem Englisch (er sagt nie etwas auf der Bühne) den butlerartigen Herrn in Schwarz fragt, welchen Bordeaux er denn empfehlen könne.

Mehr große Welt geht nicht. Aber dann fallen so ein paar Sätze, die misstrauisch machen, ob das Interview von 1988 wirklich Vergangenheit ist. Die Stimmung war klasse, darin sind sich alle einig. Dann erzählt Alex, mit wem sie an diesem Abend in Frankreich und Paris konkurriert haben und sich zuschauermäßig behauptet haben. Mit jedem Band-Namen steigt die Stimmung. Was die auch? Immerhin! Respekt! Als ob die begeisterten Fans nicht eindrucksvoll genug waren. Als ob die Scorpions diesen Abgleich nötig hätten.

Der energiegeladenste, nicht nur auf der Bühne, ist der punkigblond gefärbte Rudolf Schenker. Er rennt am meisten auf und ab, wirbelt mit den Armen, geht in die Hocke. Schenker ist der beseelte Motivator. Kurz vor dem Konzert empfängt er den Journalisten in seiner Garderobe. Er trägt nach den Yogaübungen nur Unterhosen und konzentriert sich bei seinen Ausführungen auf Visionen seines Scorpions-Lebens. Am 31. August wird er 70 Jahre alt.

Fans wie Renata Dardova und ihr Mann Pavel (li.) aus Ostrava warten nach Scorpions-Konzerten (Foto oben) schon mal stundenlang, bis Leadsänger Klaus Meine auftaucht – mindestens für ein Foto. (Foto: privat)

Die Vision: Nur die Band zählt, vergiss die Einzelkarriere!

Die Vision: Klassischer Rock!

Die Vision: Eines Tages zu den erfolgreichsten 30 Bands der Welt gehören!

Visionen erfüllt. Alle.

Und jetzt im Bristol erzählt er: "Wusstest du, dass es in Frankreich nach dem Release von ,Still Loving You' neun Monate später einen signifikanten Anstieg der Geburtenrate von 0,4 Prozent gegeben hat. Das ist erwiesen!" Vorher hatte auch schon jemand erwähnt, dass Metallica und Bon Jovi die Scorpions zu ihrem Vorbild erklärt hätten.

Rudolf Schenkers freundliches Gesicht fragt außerdem: "Was sagst du jetzt?"

Man könnte sagen, dass dieses stolze Verweisen auf die eigenen Erfolge sehr rührend ist. Und etwas traurig. Aber da kommt der Wein. Und da ist ja noch die Frage, warum die Band sich so lange von den deutschen Medien verkannt gefühlt hat?

"Die haben uns immer belächelt", sagt Rudolf Schenker. "Wir waren verkannt, weil wir immer zwischen allen Stühlen gesessen haben. Als deutsche Band, die amerikanische Musik mit englischen Texten machen wollte, dann, als in der Neuen Deutschen Welle alle Bands deutsch gesungen haben und englische Songtexte so was von vorgestern waren. Und wir unseren Stil weiter pflegten, während der Grunge hochgejubelt wurde und alle meinten, Hardrock sei etwas für die Mottenkiste."

Und dann?

",Wind of Change' hat uns zu den Deutschen zurückgebracht. Die Scorpions waren nie eine Band von vorgestern. Wir haben auf Facebook sieben Millionen Follower, davon sind 80 Prozent zwischen 16 und 28." Schenker, Vater des dreijährigen Little Richard, der nach ein paar Songs von seiner Mutter trotz Schutzkopfhörer aus der Halle in Bercy gebracht wurde, ist jetzt in Fahrt: "Wir hätten nie gedacht, dass wir 2018 so gut drauf sein werden. Und da sollen wir aufhören? Jetzt, wo's richtig Spaß macht? Ich soll jetzt an einem See sitzen und aufs Wasser schauen, bis ans Ende meiner Tage? Kann ich nicht."

Trotzdem geht Schenker jetzt ins Bett. Der zierliche Klaus Meine, der aus Sorge um seine empfindliche Stimme kaum spricht, hat sich mit sanftem Handschlag längst verabschiedet, weil es ja doch spät geworden ist. Nur Jabs wird noch bis vier Uhr früh über Politik diskutieren. Schenkers letzte Worte: "Drei Songs kann man nicht mehr besser machen, die sind wie in Stein gemeißelt: ,Wind of Change'. ,Rock You Like a Hurricane'. ,Still Loving you'." Bis heute die meistverkaufte Single in Frankreich.

Durchmachen mit den Fans? Nein, dafür ist den Musikern heute der Schlaf zu wichtig

Das sind sie, die universalen Songs, die den Scorpions gelungen sind, einfache, pathetische Wahrheiten von Freiheit, Sex und ewiger Liebe. Ob die Deutschen das als kitschig empfinden, schert alle anderen auf der Welt offenbar gar nicht. In Paris sagt die 43-jährige Sandrine, wie toll sie es findet, dass die Scorpions aus Europa sind und "nicht irgendeine US-Band". Egal, wen man in Paris oder in Ostrava fragt: Bei vielen hat schon die Mutter Scorpions-Platten gehört. Und alle mögen sie die Stimme von Klaus Meine. Das betonen auch Renata und Paulina. Sie stehen jetzt an der Hotelbar und haben sich mit dem Ausbleiben der Stars abgefunden. "Ich liebe die Energie dieser Band", sagt Paulina. "Und ich diesen old school Rock", ergänzt Renata, fügt dann aber an: "Schade, dass es mit der Band seit ein paar Jahren bergab geht."

Betretenes Schweigen. Sie meint aber gar nicht die musikalische Qualität, die sei unverändert hoch, sondern den Schulterschluss mit den Fans nach den Konzerten. "Früher haben sie mehr Zeit mit den Fans verbracht. Jetzt gehen sie sofort schlafen, weil sie am nächsten Tag fit sein müssen." Das sei ja gut, gerade die jungen Menschen wollten die großen Bands so lange wie möglich erleben, bevor es sie eines Tages nicht mehr gibt. Die großen Bands wie die Scorpions. Und die Stones.

Renata und Paulina wollen sich gerade verabschieden, da steht plötzlich ein Muskelpaket mit langen blonden Haaren und einem alten Jungsgesicht an der Bar, es ist Mikkey Dee, der hartarbeitende Drummer.

Mikkey ist mit 54 vergleichsweise jung. Der Schwede war mehr als 20 Jahre bei Motörhead und einer der besten Kumpel des schwer trinkenden Bandchefs Lemmy Kilmister. "Oh ja", sagt Mikkey, "ich vermisse Lemmy sehr. Er gab einen Scheiß aufs Geld. Auszeichnungen waren ihm vollkommen egal. Den Scorpions sind sie wirklich wichtig. Aber wenn Lemmy die Socken gewechselt hat, haben die Zeitungen eine Riesengeschichte darüber gebracht. Bei den Scorpions passiert gar nichts. Da müssen wir besser werden."

Mikkey war so erschöpft nach dem Auftritt, dass er sich unter der Dusche wie ein Geist gefühlt hat. "Aber an Schlaf ist nicht zu denken", murmelt er. "Nur an Bier!"

Aha, das klingt schon eher nach Rock 'n' Roll. Er will mit dem VIP-Limousinenservice in die Altstadt von Ostrava, und fragt Paulina, Renata und den plötzlich auftauchenden David Czomperlik aus Mannheim, ob sie nicht mitkommen wollen. Renata und Paulina kennen David gut, er hat sein Leben praktisch den Scorpions geweiht und mehr als 100 Konzerte gehört. David sagt "wir", wenn er erklärt, was für die Band gut ist. Als Mikkey zum Schnaps eingeladen wird und "No, thanks" sagt, erklärt David: "Das ist gut, wir können uns nicht leisten, morgen nicht fit zu sein."

Die drei können ihr Glück kaum fassen.

In den rappelvollen Bierschenken von Ostrava beginnt Mikkey Dee irgendwann zu Songs Percussion mit Salzstangen und halb vollen Biergläsern zu spielen, sogar zu Rap, den er hasst. Vier große Ukrainer, die alle wie Cousins von Wladimir Klitschko aussehen, sind zum Konzert aus dem 1000 Kilometer entfernten Kiew angereist und stehen grinsend um Mikkey herum, ohne ein einziges Wort zu sagen. Bevor die vier noch weiterziehen, ritzen alle ihren Namen in den Holzpfeiler neben dem Tisch: Renata, Paulina, David. Und Mikkey.

Es ist ein großer Moment, für Menschen, die den Scorpions überallhin folgen.

© SZ vom 21.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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