Alben der Woche:Ein Genie - und zwar zertifiziert

Der Mandolinist Chris Thile macht mit den Punch Brothers Bluegrass, den die Pop-Schlaumeier hassen werden. Lori McKenna, Wild Pink und Ty Segall kämpfen gegen die Ungerechtigkeit der Welt an - sehr unterschiedlich.

Ty Segall & White Fence - "Joy" (Drag City)

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(Foto: AP)

Ty Segall ist ein Meister der kurzen Songs. Er klingt wie eine Kreuzung aus Syd Barrett und Soft Hair und ist einer von diesen Musikern, die die Alben im Dutzend raushauen. Was man ihm gerne verzeiht, denn er produziert dabei wirklich gut gemachte und witzige Musik, die sich selbst nicht zu ernst nimmt und gerade deshalb an manchen Stellen überraschend ernst zu nehmen ist. Auf dem neuen Album "Joy" (Drag City), das er mit White Fence aufgenommen hat, wirkt seine Kunst nun weniger waberig als zuletzt, eher erdig und handgemacht. Zwischendurch zirpen ein paar verstimmte Gitarreninsekten durch einen Song, über die er mit seiner schönen, hellen Sechzigerjahrestimme zu singen anfängt, wobei er meist über den Song hinweg zunehmend ins mehrstimmig-schräge Miauen abgleitet. Auch die lärmigeren Songs des Albums sind sehr lustig. Wobei das Schöne an seiner Parodie leerer Punkrockgesten ist, dass sie von einem Gespür für die Tragik dieses Genres zeugt, sich aber gerade nicht darüber erhebt. Er selbst will offenbar auch nichts anderes tun, als auf einem Ton gegen die Ungerechtigkeit der Welt anschrammeln, auch wenn er nicht mehr daran zu glauben scheint.

Wild Pink - "Yolk in the Fur" (Tiny Engines)

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(Foto: Tiny Engines)

Ansonsten ist es die Woche der Alben von Bands, deren Namen fast genauso klingen wie die anderer Bands. Eines davon ist das diesen Freitag erscheinende "Yolk In The Fur" (Tiny Engines) von Wild Pink. Wild Pink sind eine Band aus Brooklyn und nicht zu verwechseln mit The Big Pink aus London, an die man sich eventuell wegen "Velvet" und "Dominos" erinnert. So um 2009 mal wahnsinnig gefeiert, aber retroperspektiv, na ja, Gnade vor Recht. Jedenfalls: Wild Pink ist Musik, die etwas sein will, das sie nicht ist. Sie klingen wie ein Soundalike, das nach dem Querschnitt aus allen von unter 35-Jährigen mit höherem Bildungsabschluss (die in Stadtvierteln mit stark steigenden Immobilienpreisen leben) geschätzten Elektropopalben der vergangenen zehn Jahre von einer billigen App synthetisiert wurde. Mit Countryelementen. Was es wirklich nicht besser macht.

Lori McKenna - "The Tree" (Cn Records)

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(Foto: CN Records)

Da möchte man doch lieber in die musikalischen Arme von Lori McKenna flüchten, die - ist es Absicht? Oder Narretei? Oder Zufall? - fast heißt wie die Keltenmusik-New-Age-Grand-Lady Loreena McKennitt. Ob sie sich kennen? Hat sich eine der beiden mal irgendwann verschrieben und sich nicht getraut es zuzugeben? Irgendwas stimmt da doch nicht. Lori McKenna singt auf "The Tree" aber nicht über Kelten, sondern über Mutterschaft. Das Cover ist ein Baum, der aus einem Herz wächst. Es ist sehr traurig und sehr gefühlvoll. In Berlin-Neukölln gibt es eine Bar, in der jeden Sonntag ein Open-Mike-Wettbewerb stattfindet, und jeder einzelne der Musiker dort klingt mehr oder weniger wie Lori McKenna. Ab und an kommt auch ein Mann mit einem elektrisch verstärkten Didgeridoo. Wenn man beim dritten Song von "The Tree" angekommen ist, vermisst man den Mann mit dem Didgeridoo.

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(Foto: Nonesuch Records / Warner)

Chris Thile ist ein Genie. Klingt wie eine Superlativ-Phrase, ist hier aber quasi-zertifiziert. Der Mandolinist der Punch Brothers war MacArthur Fellow, also Träger eines Preises, den der amerikanische Volksmund "Genius Grant" nennt (so er ihn denn kennt). Dotierung damals (2012): 500 000 Dollar. Inzwischen sind es sogar 625 000 Dollar, die, Achtung: nein, eben keine Belohnung für erbrachte Leistungen sein wollen, sondern eine Investition in "Originalität, Einsichten und Potenzial" der Träger. Thile hat seither gern (und ja, tatsächlich ziemlich genial) unter anderem Bach auf der Mandoline interpretiert - allein und mit anderen schlauen Menschen wie Yo Yo Ma. Jetzt macht er mit seiner Bluegrass-Formation mal wieder eher keinen Bluegrass, sondern weiterhin ein mit Pop verrührtes Indie-Americana-Geschwelge über den Zustand der Welt, der Menschen und der USA. Vor allem der USA unter Trump. Und jetzt kommen natürlich die Pop-Schlaumeier und sagen, dass das ja immer fragwürdig wird, wenn jemand im Pop zu schlau ist. Weil: Reflektion tötet Gefühl, Intellekt tötet Unterleib, Technik tötet Charakter und Ausbildung tötet Naivität. Und natürlich habe sie damit recht. Schlaumeier haben immer recht. "All Ashore" lahmt natürlich etwas daran, dass es in Teilen zerdacht ist. Andererseits: Niemand mag Schlaumeier, und die Band setzt das Zerdachte mit so viel kindlicher Begeisterung wieder zusammen, dass das ganze Genöle letztlich doch kleingeistig wirkt. Und exzellenzfeindlich. Und ein bisschen neidisch.

Negative Scanner - "Nose Picker" (Cargo Records)

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(Foto: Cargo Records)

Man hat schon nicht mehr damit gerechnet, da erwacht ausgerechnet die Gitarrenmusik noch einmal aus ihrem scheinbar ewigen Koma. "Nose Picker" (Cargo), das zweite Album des aus Chicago stammenden Post-Punk-Quartetts Negative Scanner, ist zwar nicht sonderlich originell, die Musik macht aber trotzdem großen Spaß. Auf dem Cover ist die Sängerin zu sehen, die sich hochvergnügt den Finger in die Nase steckt. Der Sound des Albums ist allerdings knochentrocken. Sogar der Federhall, wenn er bei den Stops hörbar wird, klingt wie verschluckt von der Garage, in der das Ganze ja am Ende doch nicht aufgenommen wurde. Aber es ist toll, mal wieder putzmunter knurrende Schrammelgitarren zu hören. Sängerin Rebecca Valeriano-Flores' Organ changiert zwischen Punk-Operette und Kneipengrölen, manchmal über mindestens 43 Takte auf einem einzigen Ton. Dazu gibt es zwei Minuten kurze Songs mit Sonic-Youth-Gedächtnis-Dissonanzen! Wie schön.

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