Theaterpremiere in Zürich:Familie ist, wenn alle Abstand halten

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Ja, wo gibt's denn das noch auf einer Bühne? Matze Pröllochs und Benjamin Lillie küssen sich - allerdings nicht ohne Küchenfolienschutz. (Foto: Diana Pfammatter)

Am Schauspielhaus Zürich spielen sie tapfer weiter Theater - für 50 Zuschauer. Christoph Rüping hat dort sehr wahrhaftig und detailreich "Einfach das Ende der Welt" inszeniert.

Von Egbert Tholl

Ein Mann kommt nach Hause. Zwölf Jahre war er nicht mehr hier gewesen, im Haus seiner Kindheit, das er verließ, "um zu überleben", dessen Enge und die der Provinz ihm zu viel wurde. Er wollte allein gelassen werden, und er wurde allein gelassen, von seiner jüngeren Schwester, dem älteren Bruder, der Mutter. Jetzt kehrt er zurück, um zu sterben. Wie ein Elefant.

Der Mann ist der Schauspieler Benjamin Lillie, er trägt, wie alle hier, keinen Rollennamen, er steht für sich und seine Figur gleichermaßen. Er flirtet erst einmal ausgiebig mit dem Publikum, das in der großen Zürcher Schiffbauhalle so geschickt verteilt ist, dass man die Reglementierung auf 50 Zuschauer fast vergessen könnte. Aber eben 50 Zuschauer. An einigen Orten in der Schweiz geht das, da ist Theater noch möglich, wie am Schauspielhaus Zürich, wo Christopher Rüping nun seine Inszenierung von "Einfach das Ende der Welt" herausgebracht hat. Ursprünglich hätte die Premiere im Frühsommer sein sollen, aber da ging selbst in Zürich kein Theater. Am 17. Dezember ist sie im Live-Stream zu sehen, Rüping selbst übernimmt die Kameraregie.

Mit seiner Kamera betreibt der Rückkehrer eine Archäologie der Erinnerung

Lillie erkundet erst einmal den Ort, dafür holt er sich den Musiker Matze Pröllochs auf die Bühne, der Schlagzeug spielt und mit Elektronik einen Soundtrack der Kindheit entwirft. Später wird man entdecken, dass er die Liebe seines Lebens ist, es wird einen innigen Kuss geben, die Münder getrennt durch Küchenfolie, sie werden ihre Liebe feiern zum Discohit "I'll Fly with You" von Gigi D'Agostino, 1999 war das. Aber erst einmal stromert Benjamin, in der großen Stadt ein erfolgreicher Videokünstler geworden, durch die drei Orte, die Jonathan Mertz mit liebevollster Akribie erschaffen hat. Wohnzimmer, Esszimmer, das alte Kinderzimmer, vollgestopft mit den Dingen des Lebens, das Benjamin verlassen hat. Seine Kamera erforscht die Details. Mutters Holzelefanten auf dem Fensterbrett, die alten Videokassetten, "Pretty Woman", die Fotos über dem Bett. Hollywood-Diven, Lady Di und Freddie Mercury.

Drei voneinander separierte Zimmer, in denen Benjamin seine Archäologie der Erinnerung betreibt, zu einem verblassten Gefühl zusammensetzt. Diese halbe Stunde Spurensuche ist phänomenal wahrhaftig, lässt einen an eigene Besuche im Haus der Kindheit denken, auch wenn die nicht zwölf Jahre her sein müssen. Dann ist Pause - und 15 Bühnenarbeiter räumen die gesamte Ausstattung beiseite. Danach ist der Raum völlig leer, an den Wänden lehnen die Sperrholzrückseiten des Bühnenbilds. Und Benjamin trifft auf seine Familie.

"Einfach das Ende der Welt" hatte seine Uraufführung 1999, vier Jahre nach dem Tod seines Autors Jean-Luc Lagarce. Das Stück gehört in Frankreich zur Schullektüre, 2016 wurde es von Xavier Dolan mit einer Starbesetzung verfilmt. Von der konkreten Situation einer bestimmten Familie ist nun bei Rüping nicht mehr viel übrig, man muss auch nicht darüber nachdenken, wie viel Autobiographisches Lagarce, der an Aids starb, hier verarbeitete. Rüping reißt den Text auf, macht ihn vollkommen durchlässig, und seine Akteure, die sich von gemeinsamen Arbeiten schon länger kennen, werden als eingespielte Truppe zu ihrer eigenen Familie.

Gezänk, alte Vorwürfe, Konfrontationen - die Wiedervereinigung gelingt nur als Utopie

Lillie wirft sich mit Verve in seine Figur, surft virtuos auf der Oberfläche der Emotionen. Wiebke Mollenhauer spielt die kleine Schwester mit dem schönsten Charme brüchiger Verzückung. Ulrike Krumbiegel hat sich als Mutter mit einem Glitzerpulli fein gemacht und stets eine Sektflasche zur Hand. Maja Beckmann ist eine hochskeptische Schwägerin mit grüblerischem Menschenverstand, ihr Mann ist Nils, der ältere Bruder. Nils Kahnwald ist dieser Bruder, der bei der Mutter blieb, um für sie zu sorgen, der die große finale Konfrontation mit Benjamin hat. Hier die Egozentrik des Sterbenden, dort der kalte Stolz des Handwerkers, der sich mit karger Mühe in seinem Leben eingerichtet hat.

Nun endlich kann Benjamin von seiner Krankheit berichten. Zuvor scheiterten alle Versuche am Gezänk, an alten Vorwürfen, am unzureichenden Herantasten der in der Provinz Verbliebenen an den zurückkehrenden Paradiesvogel. Die auf der Bühne herrschenden Distanzregeln kommen dem Scheitern jeder Annäherung zugute. Nicht durchgehend, aber immer wieder und immer wieder verblüffend gibt es dabei Momente großer Wahrhaftigkeit. Am Ende lebt der Regisseur Rüping aus, was er auch kann, nämlich das große Pathos. Im Ascheregen eines selbsterfundenen Spiels tanzt die Familie die Utopie einer Wiedervereinigung in diesem einen, letzten Moment.

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