Offener Brief aus Belarus:Lukaschenko übersieht, mit wem er es zu tun hat

Lesezeit: 3 Min.

Sasha Filipenko wird im Literaturhaus aus seinem Roman "Die Jagd" lesen - und sicherlich auch über die politische Lage sprechen. (Foto: Lukas Lienhard/Diogenes Verlag)

Belarus' Diktator hat Bloggern und Journalisten den Krieg erklärt. Er wird ihn nicht gewinnen.

Gastbeitrag von Sasha Filipenko

Nach 41 Tagen Hungerstreik hat der belarussische Blogger Igor Lossik gerade bekannt gegeben, wieder Nahrung zu sich zu nehmen. Das ist eine gute Nachricht. Mehr als einen Monat lang haben zigtausend Belarussen Igor gebeten, seinen Hungerstreik zu beenden. Die wichtigste Botschaft formulierte die belarussische Schriftstellerin Jewgenija Pasternak sehr treffend: "Igor, wir werden ganz bald alle zusammen den Sieg über dieses Regime feiern, und es geht nicht, dass du nicht dabei bist!"

Die schlechte Nachricht ist: Er sitzt noch immer im Gefängnis. Der Verfasser des größten politischen Telegram-Kanals in Belarus wurde vor sechs Monaten in Minsk verhaftet. Präventiv. Ihm wird die Organisation von Protesten vorgeworfen, die erst mehrere Monate später stattfanden. Der KGB war schon lange hinter Lossik her. Schon 2011 startete Lossik Aktionen, zu denen die Belarussen gar nichts sagten, sondern nur applaudierten. Schon 2011 wurde klar, dass man auf den Straßen von Belarus nicht Beifall klatschen darf. Wegen Applaudierens wurde sogar ein einarmiger Mann verhaftet. Tatsache.

Seit dem 9. August 2020 wurden mindestens 62 Fälle von körperlicher Gewalt gegen Journalisten registriert

Im Sommer 2020 unternahm das Regime von Diktator Lukaschenko einen massiven Angriff auf die unabhängige Presse. Der wichtigsten unabhängigen Nachrichten-Website Tut.by wurde der Medienstatus entzogen. Ausgaben der einzigen Oppositionszeitung Narodnaja Wolja wurden bereits in der Druckerei beschlagnahmt. Viele Menschenrechts- und Informationsseiten sind nur noch über VPNs zu erreichen. An Sonntagen, an denen die Proteste stattfinden, wird das Internet ganz abgeschaltet.

Im Jahr 2020 gab es in Belarus 480 Festnahmen von Journalisten, die zu 97 administrativen Verhaftungen führten. Insgesamt haben Journalisten in Belarus mehr als 1200 Tage hinter Gittern verbracht. Seit dem 9. August 2020 wurden mindestens 62 Fälle von körperlicher Gewalt gegen Journalisten registriert, darunter der gezielte Schusses auf die Nascha Niwa-Reporterin Natalja Lubnewskaja.

Die russische Zeitung Nowaja Gaseta, die auch über die Proteste in Belarus berichtet, hat herausgefunden, dass bestimmte Spezialeinheiten der Polizei für jeden gefangenen Kameramann oder Fotografen eine Prämie erhalten. Dasselbe hätten auch europäische Journalisten erzählen können, aber die wurden des Landes verwiesen und verloren ihre Akkreditierungen.

Viele belarussische Journalisten zahlen für ihre Berichte mit ihrer Freiheit. So sind etwa Katerina Andrejewa und Darja Tschulzowa vom oppositionellen Sender Belsat nach wie vor hinter Gittern. Am 15. November 2020 wurden sie festgenommen, während sie einen Livestream auf der Straße produzierten. Ihnen wird die Anleitung von "Gruppenaktionen" vorgeworfen, die "die öffentliche Ordnung grob verletzen". Die Ermittlungen ergaben, dass der Livestream von Katerina und Darja 13 Buslinien, drei Trolleybus- und drei Straßenbahnlinien aufgehalten habe. Über die Absurdität der Vorwürfe staunt allerdings schon lang keiner mehr.

187 Personen gelten derzeit als politische Gefangene

Auch Katerina Borissewitsch sitzt bereits seit mehreren Monaten in Haft. Sie hat angeblich ein Arztgeheimnis gelüftet. Tatsächlich brachte Borissewitsch nach der aufsehenerregenden Ermordung von Roman Bondarenko die Stellungnahme eines Arztes an die Öffentlichkeit, der zufolge der junge Künstler, den Unbekannte aus dem Hof seines Wohnblocks entführt hatten, nicht betrunken gewesen war. Die belarussischen Behörden hatten nämlich versucht, seinen Tod als Folge einer Alkoholvergiftung darzustellen. Wie Sie bestimmt schon erraten haben, wurde gleichzeitig mit Katerina Borissewitsch auch der Arzt inhaftiert.

Schon vor den Wahlen begann die belarussische Staatsmacht, nicht nur gegen Journalisten, sondern auch systematisch gegen Blogger vorzugehen, auch gegen kleine, bloß regional aktive. Aber was will denn das Regime Lukaschenko verbergen? Vielleicht, dass nach den Wahlen mehr als 1000 Strafverfahren gegen Beteiligte an den Wahlkampagnen seiner politischen Gegner eingeleitet wurden. Oder dass in Belarus derzeit 187 Personen als politische Gefangene gelten, einschließlich der Präsidentschaftskandidaten Wiktor Babariko und Sergej Tichanowski. Oder dass es noch immer kein einziges Strafverfahren wegen Folter von Demonstranten gibt, dafür aber die belarussischen Behörden jetzt berechtigt sind, Ermittlungen wegen Mordes auf unbestimmte Zeit aufzuschieben oder überhaupt auf die Einleitung eines Strafverfahrens zu verzichten.

Ich wage zu behaupten, dass Lukaschenko wohl kaum an einer Verbreitung der Information interessiert ist, dass von 9. August bis 31. Dezember 2020 bei friedlichen Protestaktionen über 25 000 Menschen festgenommen wurden und allein im August und September 2020 in Minsk nicht weniger als 1406 Menschen von Schergen des Regimes verletzt wurden. Mehr als 600 Menschen wurden nicht bei Demonstrationen, sondern nach ihrer Festnahme auf Polizeidienststellen, in Polizeiwagen und im Okrestin-Untersuchungsgefängnis verprügelt. Mindestens drei Demonstrantinnen wurde sexuelle Gewalt zugefügt, eine der Vergewaltigten war minderjährig.

Es herrscht Krieg, unter anderem ein Informationskrieg, den Lukaschenko um jeden Preis gewinnen muss. Aber er übersieht, dass er es mit einfallsreichen Partisanen zu tun hat. Die Printversion der Narodnaja Wolja etwa ist in Belarus schon Geschichte. Doch auf die gedruckte Veröffentlichung will Chefredakteur Iossif Sereditsch trotzdem nicht verzichten. Also wird die Zeitung in der Redaktion gestaltet und online verschickt. Freiwillige drucken ein paar Exemplare aus und verteilen sie an Stammleser oder hängen sie an Plakatwände. All das passiert mitten in Europa, im Jahr 2021. Einerseits ist es unerhört und traurig, andererseits eindrucksvoll und symbolträchtig. Dieses Volk, so sehr sich Lukaschenko auch bemüht - er wird es nie besiegen!

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Von Francesca Polistina

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist Schriftsteller. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Roman "Rote Kreuze" (Diogenes). Im März folgt "Der ehemalige Sohn". Er lebt mit seiner Familie in St. Petersburg.

Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer.

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