Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch sitzt zu Hause in seiner Minsker Wohnung und erzählt am Telefon von der neuen Repressionswelle. Diesmal trifft es Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Verleger und Übersetzerinnen, Menschen aus dem Kulturbetrieb. "Es sind dramatische Zeiten", sagt Martinowitsch.
Am 13. Januar wurden der Verleger Gennadij Winjarskij und der Buchgestalter Anatolij Lasar festgenommen, ihre Computer konfisziert. Zwei Tage später stand die Polizei bei dem Verleger Andrej Januschkewitsch und bei Ales Jaudacha vor der Tür, Online-Buchhändler und Inhaber der für Autoren wichtigen Plattform knihi.by. Alle vier befinden sich mittlerweile wieder auf freiem Fuß - Olga Kalazkaja hingegen bleibt in Haft. Sie ist Literaturübersetzerin aus dem Englischen, für ihre Freilassung hat sich mittlerweile auch Margaret Atwood, die von ihr übersetzt wird, eingesetzt.
Die Betroffenen dürfen von den Festnahmen keine Details erzählen, die Angst wird diffuser. "Für die Festnahmen gibt es keine plausiblen Erklärungen, so haben alle, mit denen ich gesprochen habe, mich selbst inklusive, das Gefühl, wir können jeden Moment verhaftet werden", sagt die Übersetzerin und Essayistin Irina Gerasimowitsch.
Die literarische Szene in Belarus ist überschaubar. Die unabhängigen Verlage, die zeitgenössische Literatur in belarussischer Sprache veröffentlichen, lassen sich an einer Hand abzählen. Die Menschen, die in der Branche arbeiten, kennen sich und halten zusammen: "In diesen Tagen kaufen alle die Bücher des Verlags von Andrej Januschkewitsch, dessen Konten gesperrt sind und gegen den ermittelt wird. Für die alte Mutter der verhafteten Übersetzerin Olga Kalazkaja haben die Kollegen einen Pflegedienst organisiert", erzählt Gerasimowitsch. Das Gefühl der Hilflosigkeit bleibt dennoch.
Vor Kurzem wurden 600 Exemplare des neuen Romans von Viktor Martinowitsch beschlagnahmt
Fast alle belarussischen Literaturschaffenden wohnen in Minsk und leben von Lesungen und Buchpremieren. Sie sind für den Erfolg eines Buches wichtiger als etwa in Deutschland, weil die nicht staatlichen Verlage Schwierigkeiten haben, in die Regale der Buchläden zu gelangen, wie der Übersetzer Thomas Weiler erzählt. Doch auch diese Veranstaltungen finden coronabedingt nicht mehr statt. Zumindest ist das die offizielle Version, einen Lockdown gibt es im Land nicht.
So war es auch bei Viktor Martinowitsch. Sein jüngster Roman "Revolution" ist in Belarus im Oktober erschienen (in Deutschland bei Voland und Quist), die geplanten Autogrammstunden haben die Buchläden allerdings kurzfristig abgesagt. Der offizielle Grund: das Virus. Doch Martinowitsch ist skeptisch. An einem Wochenende fand ein Literaturfestival statt, das er als Zuschauer besuchen wollte. Er schrieb auf Facebook, wo und wann ihn seine Leser und Leserinnen hätten finden können. Dann erfuhr er über den Online-Nachrichtendienst Telegram, dass nicht weit entfernt Demonstranten auf die Straße gehen wollten. "Ich nahm warme Kleidung mit, denn ich fürchtete, festgenommen zu werden", sagt er. An dem Tag verlief alles friedlich, doch die Situation wird auch für ihn bedrohlicher. Vor Kurzem wurden 600 Exemplare seines neuen Romans beschlagnahmt.
Viktor Martinowitsch gehört zu den Autoren, die noch in Belarus leben. Viele andere haben das Land schon verlassen oder sind aus dem Ausland nicht zurückgekehrt. Wie Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreisträgerin und prominenteste intellektuelle Stimme des Landes, die im Herbst nach Berlin gezogen ist, wo sie sich in medizinischer Behandlung befindet. Oder die Dichterin Wolha Hapejewa, die schon 2019 weggegangen ist und erst mal nicht zurückkehren wird, weil die Situation im Moment zu gefährlich und instabil ist, wie sie am Telefon erzählt. Oder der Romanautor Sasha Filipenko, der schon seit Jahren im Exil in Russland lebt. Auch die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja befindet sich immer noch in Litauen.
Es werden angebliche finanzielle Unstimmigkeiten gefunden, um von den Verlegern hohe Geldstrafen zu verlangen
Die Repressionen zielen nicht nur auf die Literaturszene. Laut dem belarussischen Journalistenverband befinden sich zehn Journalisten hinter Gitter, die Gesamtzahl der politischen Gefangenen liegt Schätzungen zufolge bei 220. Doch die Methoden des Regimes sind vielfältig. So wurde die Crowdfunding-Plattform MolaMola, die häufig für kulturelle Projekte und Veranstaltungen genutzt wurde, gesperrt, weil sie mit dem Oppositionellen Viktor Babariko verbunden ist.
Die wenigen unabhängigen Verlage bekommen regelmäßig Besuch von der Polizei. Zwar gibt es keine Zensur vor der Veröffentlichung und die Bücher dürfen erscheinen, doch dann wird das Regime aktiv. Manchmal werden die Bücher verboten (wie zum Beispiel "Paranoia" von Martinowitsch) oder es werden angebliche finanzielle Unstimmigkeiten gefunden, um von den Verlegern hohe Geldstrafen zu verlangen. Die Dichterin Wolha Hapejewa sagt: "Dass unabhängige Verlage noch existieren, ist ein Wunder. Für mich sind sie Helden." Das Coronavirus bringt zudem auch in Belarus viele in finanzielle Schwierigkeiten, selbst Kinderbücher, traditionell eine wichtige Einnahmequelle der Branche, verkauften sich weniger, meint Hapejewa.
Während der Proteste im Sommer war die Lage im Land im Rest der Welt sehr präsent. "Als ich in einem Geschäft war und mit dem Verkäufer sprach, wusste er über die Situation in Belarus Bescheid. Früher musste ich erklären, wo mein Land liegt", sagt Hapejewa, die seit eineinhalb Jahren als Stipendiatin in Österreich und Deutschland lebte. Inzwischen ist Belarus wieder weitgehend aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit verschwunden. Europa sieht eher auf Russland und den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. In Belarus sitzt keine Prominenz in Haft, und die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch äußert sich selten aus ihrem Berliner Exil. Solidaritätsaufrufe deutscher oder europäischer Intellektueller blieben Einzelfälle, trotz Initiativen wie "Stimmen aus Belarus". Wie viele andere glaubt die Lyrikerin Hapejewa, dass die Aufmerksamkeit von außen den Druck auf das Regime von Lukaschenko erhöhen würde. Nur ohne Aufmerksamkeit gibt es auch niemanden, der von außen Druck ausüben könnte.