Mehr Liebe - Heikle Geschichten:Kein Mitleid mit der Schlampe von gegenüber

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Geschmacksverstärker: Frank Schulz reflektiert in seinen Geschichten über Erwachsen- und Verlassenwerden.

Jörg Magenau

Frank Schulz hat seinen Erzählungen ein mehr als vertracktes Motto vorangestellt: "Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen." Der Satz von Marie von Ebner-Eschenbach enthält all die verzweifelte Vergeblichkeit des lebenslangen menschlichen Sehnens.

Doch andererseits: Liebe ist keine ökonomische Maßeinheit, und sie kann auch völlig unverdient zugeteilt werden. Denn was hat der Mensch schon verdient. Der Titel "Mehr Liebe. Heikle Gesichten" sollte jedenfalls nicht als moralischer Imperativ aufgefasst werden oder gar als Bekenntnis von Süchtigen, die nie genug kriegen können. "Mehr als sie verdienen": Das ist notwendigerweise eine schmerzliche Angelegenheit.

Wie viel Liebe hat zum Beispiel Bea verdient, die so schön ist und so paradiesisch gut riecht, dass Helmer ihr verfällt und elf verfluchte Jahre und noch einmal elf verfluchte Jahre lang nicht von ihr loskommt? Dabei behandelt sie ihn alles andere als gut, heiratet einen anderen, bekommt Kinder, trennt sich, und erst in der Trennung ist Helmer dann wieder gefragt - als alter Freund und so etwas wie ein Bruder. Wer hat da was verdient? Hat ein liebender Mann es jemals verdient, dass eine Frau zu ihm sagt: Du bist wie ein Bruder für mich? Ach, herrje. Schulz koppelt diese Passions-Geschichte an den Song "Love her madly" von den Doors, dessen ganze Traurigkeit er ausschöpft: "All your love is gone / So sing a lonely song."

Hymne eines Hurenchors

Überhaupt spielt Popmusik aus der reichhaltigen Abteilung "My Baby left me" in diesen Geschichten eine wichtige Rolle als Erinnerungsbeschleuniger, Schmerzlöser und Geschmacksverstärker. Erinnerungen riechen ja nicht nur süß (nach Beas Parfüm), sie klingen auch so. Es sind Geschichten vom Erwachsenwerden in den 60er und 70er Jahren, als ein gewisser J. Bastos mit Loop-di-Love einen einzigen Hit hatte. Doch es dauert vierzig Jahre, bis der Erzähler begreift, dass das, was er damals als harmloses Liedlein trällerte, tatsächlich die von einem Hurenchor vorgetragene Hymne auf die käufliche Liebe gewesen ist. Es kann eben auch riskant sein, die eigenen Erinnerungen genauer zu untersuchen.

Schulz' Heimat ist der deutsche Norden, Hamburg vor allem mit Hafen und Reeperbahn. Sein literarisches Einzugsgebiet entspricht ungefähr dem von Siegfried Lenz, mit dem ihn auch der menschenfreundliche Blick verbindet. Doch seine Figuren sind proletarischer, derber, herzhafter. Dass sie so lebensecht wirken, hat mit der sprachlichen Präzision zu tun, in der er sie zu Wort kommen lässt. Schulz beherrscht nicht nur die plattdeutsche Mundart und den Hamburger Slang, sondern auch das Berlinerische in seiner spezifischen Ost-Ausprägung, und das muss man geschrieben erst einmal hinbekommen.

Daneben entgehen ihm auch nicht so fragwürdige Erscheinungen wie das ewige Geht-gar-nicht-Gerede oder das sogenannte Nuller-Okay der Globalisierungsavantgardisten, das in einem neckischem Aufwärtsschwung und in Frageform zu sprechen ist: "Okay-iii?"

So geht das

Frank Schulz, bisher eher als rauer Autor der sogenannten Hamburger Bier-Boheme bekannt, schildert in diesem Erzählungsband die menschlichen Schwächen und Traurigkeiten voller Verständnis und, ja, mit sehr viel Liebe. Damit das Ganze aber nicht zu sentimentalisch und vergangenheitsverfallen wird, gibt es als Kontrast dazu eine "Trilogie der Gewalt", drei kurze Texte, die all die Liebesmühen durchlöchern wie Gewehrschüsse.

Da knallt ein Mann auf dem Balkon zur Abwechslung mal nicht bloß die Tauben in der Luft ab, sondern "die Schlampe von gegenüber, die immer den ganzen Tag die Titten in die Sonne hängt", einfach so, aus Wut und Langeweile. Da bringt ein anderer an der Bushaltestelle eine Arbeiterin um, bloß weil die "Schlappschwanz" zu ihm gesagt hat: Menschen brauchen eindeutig mehr Liebe, als sie verdienen.

Eine der schönsten Geschichten handelt von der Trauer eines mit sich und seinem Leben nicht sonderlich zufriedenen Mittvierzigers. Sein Opa ist ein paar Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen, doch erst jetzt, bei Spaziergängen und beim Weinen am Grab wird ihm klar, dass dieser spröde und wortkarge alte Mann der einzige Mensch gewesen ist, den er ganz und gar geliebt hat - vielleicht deshalb, weil er so wenig mit ihm zu tun hatte: "Opa hatte mir nie etwas verboten, er hatte mir nie etwas erlauben müssen. Er hatte mir nichts Besonderes beigebracht oder von mir verlangt. Er hatte mich nicht verstanden, und er hatte mich nichts gefragt. Er hatte mir später einmal hin und wieder zugesehen, wie ich die Zigarre rauchte, die er mir aus seinen Restbeständen angeboten hatte."

So geht das also mit der Liebe. Bitte mehr davon.

FRANK SCHULZ: Mehr Liebe. Heikle Geschichten. Verlag Galiani, Berlin/ Köln 2010. 292 Seiten, 19,95 Euro.

© SZ vom 14.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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