Roman: Die Frau mit dem roten Tuch:Das Zauberperlenspiel

Lesezeit: 2 min

Ein Liebespaar trifft sich nach Jahren wieder - tiefe ideologische Gräben hatten sie einst getrennt. Wieder einmal fragt Jostein Gaardner, wer wir sind und wo wir hingehen.

Jutta Person

Wer den 1952 in Oslo geborenen norwegischen Bestseller-Autor Jostein Gaarder ("Sofies Welt") einmal bei einer Lesung beobachtet hat, wird sich an eine Lehrergestalt der dynamisch-engagierten Art erinnern; kein verträumter Cordsakkotyp und schon gar kein feintuerischer Manschettenträger, sondern eher der Mann im atmungsaktiven Funktionspullover, der mit seinen Schülern nach draußen geht, um ihnen die Wunder der Natur zu zeigen.

War die Frau mit dem roten Tuch, die das Leben von Solrun und Steinn veränderte, eine übernatürliche oder eine halluzinatorische Erscheinung? (Foto: Hanser Verlag)

Mit dieser ebenso handfesten wie spielerischen Methode sind Gaarders Kinder- und Jugendbücher pädagogisch so erfolgreich, dass sie auch Erwachsene in rauen Mengen anziehen. Die Geschichte des Mädchens Sofie, die zugleich eine Geschichte der Philosophie ist, hat seit ihrem Erscheinen im Jahr 1991 Millionen von lernwilligen Volljährigen in ihren Bann geschlagen.

Jetzt hat Gaarder einen Erwachsenen-Roman geschrieben, allerdings den Erzieher in sich kaum gebremst. "Die Frau mit dem roten Tuch" ist ein Thesenroman, der tafelbildmäßig zwei Weltanschauungen aufeinander loslässt, eine naturwissenschaftliche und eine spirituelle mit esoterischer Schlagseite. Der Clou: Keine der beiden Perspektiven kann gewinnen, denn jede ist auf die andere angewiesen. Das ehrenwerte Lernziel des Romans besteht darin, engstirnige Rechthaberei als solche kenntlich zu machen - ob nun auf Seiten der verbissenen Atheisten oder der religiösen Eiferer.

Verpackt ist diese Erkenntnis in eine Liebesgeschichte voller Geheimnis und Tragik. Ein ehemaliges Liebespaar trifft nach dreißig Jahren in einem Fjordhotel nördlich von Bergen aufeinander. Beide sind in den Fünfzigern und haben Familien mit anderen Partnern. Steinn ist Klimaforscher und Professor an der Uni Oslo, Solrun arbeitet als Lehrerin und sinniert über menschliche Geistwesen. Getrennt hatten sie sich Mitte der siebziger Jahre wegen tiefer ideologischer Gräben, die in eben jenem Hotel aufbrachen, in dem sie sich jetzt wiedersehen - Zufall oder Schicksal?

Sie vereinbaren, per Email in Kontakt zu bleiben, und damit beginnt ein Briefroman, der die ganz großen Wo-kommen-wir-her-Fragen in simulierter Email-Formlosigkeit verhandelt. Gleichzeitig tasten sich die beiden an eine mysteriöse Episode heran, die ihr Leben damals durcheinanderbrachte: die Frau mit dem roten Tuch, eine je nachdem übernatürliche oder halluzinatorische Erscheinung.

Solrun ist mittlerweile eine "christliche Spiritualistin", sie liest Bücher über paranormale Träume und Telepathie; an ihren Ex-Partner mailt sie: "Was ist ein Mensch? Und was ist dieses Sternenabenteuer, in dem wir als kleine Zauberperlen des Bewusstseins herumschwimmen?" Steinn dagegen hat sich zum Klischee-Rationalisten entwickelt, der dem Psychogewaber mit verkrampfter Nüchternheit begegnet: "Wir sind Primaten, Solrun. Wenn wir ein paar Jahrmillionen zurückgehen, haben wir denselben Ursprung wie Schimpansen und Gorillas."

Klischees? Geschenkt

Dass der Mann die knallharte Fakten-Seite besetzt und die Frau den Part der esoterischen Trulla übernehmen darf - geschenkt. Es passt in die Serie der Stereotypen, mit denen Gaarder sein Schema ausstaffiert. Und das ist so Mars gegen Venus, so Vernunft gegen Gefühl, so Astrophysik gegen Sternenabenteuer, dass es ohne Komplexitätssteigerung dann doch nicht weitergeht: Der Wissenschaftler macht sich auf die Suche nach einer höheren Instanz, die den Weltraum hervorgebracht haben könnte.

Mit der todtraurigen Liebesgeschichte und dem Phantom in Rot hat Gaarder einen durchaus unlangweiligen Roman geschrieben - nicht umsonst gilt er als Meister der trickreichen Self fullfilling prophecies und der geschickt platzierten Paukenschläge. Trotzdem schimmert überall das Thesengerüst durch, das eine literarische Form auf einen Gedankenbehälter reduziert.

Es ist vor allem die Sprache dieses Emailromans, die ihre pädagogische Mission nie verhehlen kann. Wörter und Sätze sind in diesem Roman praktische Content-Übermittler, die dem dialektischen Showdown "Wissen versus Glauben" dienen. Wenn Steinn über die unvergessene Jugendliebe schreibt, "überrollt" ihn "eine Lawine aus alten Erlebnissen". Das sind ebenso naheliegende wie abgegriffene Wendungen, die kaum über sprachliches Mittelmaß hinausreichen. Und wenn es einmal richtig literarisch werden soll, müssen es "Zauberperlen des Bewusstseins" sein. Man kann so etwas auch Kognitionskitsch nennen.

JOSTEIN GAARDER: Die Frau mit dem roten Tuch. Roman. Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs. Carl Hanser Verlag, München 2010. 222 Seiten, 18,90 Euro.

© SZ vom 07.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: