Roman: Der beste Teil des Menschen:Scheiße, ist das cool

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Wäre ich nicht schwul gewesen, ich hätte mich zu Tode gelangweilt: Tristan Garcias erzählt in seinem Debütroman von drei Männern im Paris der 80er Jahre, von Sex und Aids, von Liebe und Hass - bis zum traurigen Ende.

Joseph Hanimann

Mit "Epochenroman" wäre zu viel gesagt, mit "Generationsroman" zu wenig, "Milieuroman" wäre zu eng. "Schlüsselroman" würde passen, nur dass das Schloss andersherum aufgeht, von der Fiktion in die Realität, und dass hinter der Tür nicht unbedingt namhafte Persönlichkeiten stehen. Der Autor sagt es in der Vorbemerkung auf seine Art selbst: Allfällige Ähnlichkeiten seines Romans mit real existierenden Personen seien nicht zufällig, sondern daraus erklärbar, dass Romanfiguren und Menschen in vergleichbaren Situationen sich halt vergleichbar verhalten.

Paris, ein Trauma fürs Leben: Offene Augen am Quai d'Anjou während der "Nuit Blanche". (Foto: AP)

Dieser Erstlingsroman des 1981 in Toulouse geborenen Tristan Garcia hat, als er 2008 in Frankreich erschien, durch seine Reife, seine kompositorische und stilistische Brillanz, seine thematische Breite, seine gekonnte Überlagerung von Realismus und Gleichnis Aufsehen erregt. So sicher sah man selten einen Anfänger zu Werk gehen. Das Werk ist in diesem Fall die exemplarische Geschichte dreier Männer im Paris der achtziger und neunziger Jahre, erzählt von einer Frau, der Journalistin Elisabeth Levallois, die des einen Kollegin, des anderen Geliebte, des dritten Freundin ist.

Dominique, genannt Doumé, war aus Korsika zum Studieren nach Paris gekommen, dann zum politischen Engagement gewechselt, Journalist geworden bei Libération und schließlich Mitbegründer einer schwulen Aids-Bekämpfungsorganisation. Jean-Michel Leibowitz - kurz: Leibo - stammt aus einer jüdischen Immigrantenfamilie aus Polen und ist mit Bücherschreiben und Medienauftritten zu einem Starintellektuellen geworden. Willie, der jüngste, war 1989 ohne klare Pläne aus der Provinzstadt Amiens nach Paris gelangt und dann schnell vom Penner zur erfolgreichen Skandalnudel der Schwulenszene aufgestiegen.

Gelungen ist am Roman, dass diese etwas synthetisch zusammenmontierten Charakterzüge bei den Figuren nicht aufgeklebt wirken, sondern aus ihnen herauswachsen wie kleine Flügelchen an den Schultern, in deren Bewegung immerfort etwas Zeitgeschichte mitwirbelt.

Die achtziger Jahre seien geistig ätzend gewesen, gesteht Doumé der Erzählerin: Wäre er nicht schwul, er hätte sich zu Tode gelangweilt. Die Heteros, die Linken, die Intellektuellen, die Frauen: überall die selbe Tristesse ohne übergeordnetes Anliegen, mal abgesehen vom Hunger in Afrika und Nelson Mandela. "Wir hingegen vögelten, ergo waren wir politisch. Wenn du einen Typen geküsst hast, war das die Oktoberrevolution" - auch wenn die Sache dann irgendwann im Wirtschaftsliberalismus geendet habe.

Über schnell wechselnde Perspektivensprünge und schräge Episoden hinweg zeigt der Roman, wie der Intellektuelle Leibo allmählich vom intellektuellen Schwulenmanager Doumé und dieser wiederum von der die Fernsehstudios erheiternden Tuntendiva Willie in der Publikumswirksamkeit abserviert wird, bis zum traurigen Ende.

Sexpartys mit Seropos und Seronegs

Wie er in jungen Jahren irgendwie von Rockmusik, Rimbaud und Ratten geschwärmt hatte, ohne zu wissen, wie das zusammenhing, fuchtelt Willie nach seinem Coming-out vor den Fernsehkameras talentvoll mit Hinweisen auf Spinoza, mit Provokationen und kämpferisch auftretendem Blödsinn. Sein ganzer Hass gilt seinem ehemaligen Freund und Förderer Doumé, dem Verräter des schwulen Heldenepos, der mit seinen Kampagnen für sicheren Sex "mit der Gesellschaft kollaboriert", während er, Willie, Sexpartys mit Seropos und Seronegs organisiert, in denen man wie durch eine Befruchtung zum Virus kommen kann.

Moral sei nur für einen selber möglich, doziert der vor den Mikrofonen in Fahrt kommende Stehgreifphilosoph: "Wenn du abspritzt, dann bist das du, nur du. Da lügst du nicht." Irgendwann sei das dann zu Ende und so sei es cool - "es gibt keinen Präser gegen den Tod". Mit einem so überspannten Ich lässt sich eigentlich schon fast kein Roman mehr schreiben.

Dass es hier dennoch gelingt, liegt am geschickten Kontrastspiel der Figuren, das nur im mittleren Romanteil vorübergehend aus dem Gleichgewicht gerät. Das komplizierte Verhältnis des Intellektuellen Leibo zur einfachen Herkunft seines Vaters oder das windige Talent Doumés, als Vertreter einer Minderheit in der Gesellschaft nach den ersten Aidsopfern der Mehrheit ein schlechtes Gewissen einzujagen dafür, dass sie die Mehrheit ist - diese Querverbindungen sorgen für Abwechslung und psychologische Dichte. Selbst die zurückhaltende Erzählerin, statt mit Mann und Kindern nur mit Männer liebenden Freunden ausgestattet, gewinnt ein überzeugendes Profil aus Einsamkeit, Großmut, Einfühlungsvermögen, echter Menschenliebe und einer sanften Melancholie.

Schon zum Gespenst abgemagert

Mag der Roman auch mitunter ins bloße Zeitfeature mit den parodierten Sprachticks eines noch erinnerungsfrischen Jahrzehnts abgleiten, so gelangt er über Nebeneffekte wie Willies permanentes Zahnweh immer wieder in die Handlung zurück. Von allen Figuren ist dieser in seiner Egomanie unausstehliche Willie die schönste. So sieht das auch die Erzählerin. Mag er sie, wenn sie seinen Launen nicht gleich zu Gebot steht, als frigide Fotze ausschimpfen, ist ihr dennoch klar: Dieser Mensch kann Gutes mit Bösem und Böses mit Gutem vergelten, ohne festes Gesetz, aber absolut treu. "Hi, Mensch hi, das ist ja cool, Scheiße, ist das cool" - begrüßt er sie, schon zum Gespenst abgemagert, auf dem Bettrand eines Provinzkrankenhauses beim letzten Besuch.

Seine Mischung aus Lebenswille und unbeholfener Originalität hatte ihm zu kurzer Berühmtheit verholfen, dann fiel er dahin zurück, woher er kam: ins Nichts. "Er hatte einfach die Codes nicht, er hatte nicht die Schlüssel", bemerkt Doumé einmal gegenüber der Erzählerin auf. Sie wusste es längst. Und diesen gelungenen Text hat Michael Kleeberg bis in die szenigen Wort- und Sprachmarotten hinein magistral übersetzt.

TRISTAN GARCIA: Der beste Teil der Menschen. Roman. Aus dem Französischen von Michael Kleeberg. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 2010. 320 Seiten, 19,90 Euro.

© SZ vom 10.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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