In Theodor W. Adornos Mahler-Essay heißt es gleich am Anfang, Gustav Mahler sei "in Perspektive nur dadurch zu rücken, daß man noch näher an ihn heran, daß man in ihn hineingeht (...)". Bis hierin macht der österreichische Schriftsteller Robert Seethaler in seinem neuen Roman "Der letzte Satz" also im Grunde alles richtig: Er rückt Mahler in Perspektive, indem er in ihn hineingeht. Adornos Satz, und hier fangen die Probleme auch schon an, geht aber noch weiter und zwar so: "...daß man in ihn hineingeht und dem Inkommensurabeln sich stellt, das der Stilkategorien programmatischer und absoluter Musik ebenso spottet wie der blanken geschichtlichen Herleitung von Bruckner." Mit dem Inkommensurablen, da verrät man an dieser Stelle nicht zu viel, beschäftigt Robert Seethaler sich eher nicht.
Der Roman folgt dem gealterten Komponisten auf seiner letzten Überfahrt von New York, wo er soeben seine letzte Saison hinter sich gebracht hat, zurück nach Europa. Mahler sitzt auf Deck und versucht, sich mit seinem bevorstehenden Tod abzufinden, seit Monaten dieser Bluthusten, lange kann es nicht mehr dauern. Diese Erzählanlage bereitet die Bühne, um in erlebter Rede letzte Fragen zu verhandeln: Was ist ein gutes Leben? Was ist eine gute Ehe? Und wie soll man das alles aushalten? Immer wieder wehen den Komponisten dunkle Gedanken an: "Auf seiner Kiste auf dem Sonnendeck dachte Mahler in einem Anflug bösartiger Resignation an die Nichtigkeit des Lebens. Es war kaum mehr als ein kurzes Ausatmen, ein Hauch im Weltensturm, und doch liebte er das Leben so sehr, dass ihm die Traurigkeit über die Vergeblichkeit dieser Liebe das Herz zerreißen wollte."
Während Mahler zum Ewigen hindrängt, drängt Seethaler selbst zum "Menschen"
Der Titel des Romans "Der letzte Satz" spielt sowohl auf das Sujet des Romans an als auch auf dessen Formidee: Der letzte Satz von Mahlers inoffizieller 9. Symphonie, dem "Lied von der Erde" heißt "Der Abschied". Die Ambition dieses Romans besteht nun darin, von diesem Abschied nicht nur zu erzählen, sondern die Schwere von Mahlers eigener Komposition aufzugreifen und mit den Mitteln der eigenen Sprachmelodie darauf zu antworten. Mahlers letzter Satz setzt sich in Seethalers letztem Satz gewissermaßen fort.
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Schließlich stellen sich bei dem Satz "Mein Körper war ihr Schaltknüppel" alle Nackenhaare auf. Aber auch ein Blick auf die übrigen Finalisten lohnt sich.
Für das Buch, das dabei entstanden ist, würde Adorno dem Autor allerdings mit großer Sicherheit zweihundert Sozialstunden Zwölftonmusik aufbrummen. Während Mahler zum Ewigen hindrängt, drängt Seethaler selbst zum "Menschen" hin, wie Herbert Grönemeyer ihn sich vorstellt, also lachend, singend und genuin gut. Während Mahler die Kunst nutzt, um einen Raum jenseits der Interpretation herzustellen, gibt es bei Seethaler wiederkehrende Motive, die einen grell auf den literarischen Charakter dieses Textes aufmerksam machen. Und wo Mahler das Erzählerische suspendiert, damit es der wahren Empfindung nicht im Wege steht, klingt Robert Seethalers Roman mitunter wie eine amerikanische romantic comedy. Etwa wenn sich Alma und Gustav über ihre Affäre mit Walter Gropius streiten: "Du bist die Geliebte eines Idioten." "Ich bin nicht seine Geliebte." "Was bist du dann?" "Ich bin das, was du sehen könntest, wenn du mich einmal wirklich ansehen würdest."
Gustav Mahler wird bei Seethaler zu einem neobürgerlichen Gegenwartsmenschen, der sich sein Leben im Rückblick in den Begriffen der Work-Life-Balance vor Augen führt. Er hat zu viel gearbeitet und darüber seine Ehe mit der "schönsten Frau Wiens" vernachlässigt, zu häufig seine ganze Kraft in die nächste Symphonie gesteckt, zu Hause zu häufig seinen Launen nachgegeben und den Tod seiner Tochter nie richtig verkraftet. Seethalers Mahler vergeht vor Reue, findet das Gefühl der Vergeblichkeit aber wiederum auch ganz wohlig und auf seine Weise stimulierend - eine Variante maskuliner Eitelkeit, die der amerikanische Schriftsteller Richard Ford in seinen Frank-Bascombe-Romanen einst als den finalen Ausweis für charakterliche Mittelmäßigkeit definiert hat. Streckenweise begibt sich der Roman erstaunlich furchtlos in die Nachbarschaft von Lebensberatungsartikeln à la "Diese fünf Dinge bereuen Sterbende am häufigsten - und es ist nicht das Gehalt." Wenn aber Robert Seethaler nun tatsächlich nicht der Gustav Mahler der deutschsprachigen Literatur sein sollte, sondern viel mehr ihr James Blunt: Wie schlimm wäre das genau? Und was könnte das erzählen über die Produktionsbedingungen, unter denen heute Romane entstehen, verkauft und übersetzt werden?
Nicht nur in Medienhäusern, sondern auch in Buchverlagen werden die Texte heute nicht mehr unbedingt von ihrem Ideal her gedacht, sondern vom "Menschen", dem Träger eines kollektiven Gefühlsmedians. Während Mahler also unter dem Eindruck des deutschen Idealismus komponierte, arbeitet Seethaler heute im Zeitalter des Menschismus. Und dieses Zeitalter ist überaus gut zu ihm: Mit seinen Romanen "Der Trafikant" (2012), "Ein ganzes Leben" (2014) und "Das Feld" (2018) ist Seethaler zu einem internationalen Bestsellerautor geworden, einer der ganz wenigen deutschsprachigen Autoren, die den Sprung in den englischen Sprachraum geschafft haben, vielfach übersetzt und gelesen.
Diese Romane leben vom Zauber des Hochtrabenden, sind aber doch seltsam generisch
Doch den Makel des Geistlosen und Rührigen ist er nie ganz losgeworden. Der Verdacht, dass es sich bei seinen Büchern letztlich vor allem um nostalgische Schmachtfetzen handelt und weniger um Literatur, begleitet Seethaler seit dem ersten Welterfolg. Andererseits wird dieser Vorwurf in der Regeln von Leuten vorgebracht, die mit einer Gegenwart, in denen Seethalers Texte sich besser behaupten als die meisten anderen, auch noch ganz andere Probleme haben. Seethalers Romane leben vom Zauber des Hochtrabenden, sind aber trotzdem unmittelbar zugänglich, sie setzen den Menschen als genuin empfindsam voraus, sind aber trotzdem seltsam generisch, sie sind ein Erlebnis, ohne eine Erfahrung zu sein.
Den Mahler-Roman könnte man in diesem Zusammenhang nun als Versuch verstehen, einen Roman zu schreiben, der sich auch über die Sphäre des unmittelbar Gefälligen und Geheimnislosen hinaus behauptet kann. Es ist jedenfalls nicht ganz ohne Risiko, die eigene Stimme neben jene Mahlers zu stellen und dann auf ein Ergebnis zu hoffen, das mehr ist als ein Museumsselfie. Deutlich ist in diesem Buch die Sehnsucht eines Künstlers spürbar, aus der intellektuellen, begrifflichen, ökonomischen Zwangslage auszubrechen, die jede künstlerische Sprecherposition bereithält, und so etwas wie einen Moment reinen Erlebens herzustellen.
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Und das Mittel der Wahl ist die Kunst: Wenn Mahler in diesem Roman einen Einfall hat, ihm also etwa ein Vogel die Idee für "ein Doppelschlagthema im Aufstieg zum Fortissimo und dann im Abstieg ins Pianissimo" liefert, gerät das diesseitige Gefüge für einen Moment in Unordnung und gibt einen Blick in die Unendlichkeit frei. Die Beharrlichkeit, mit der der Roman die Sphäre des Ewigen und Unendlichen beschwört, hat etwas Vielsagendes. Der Schmerz, den Seethaler hier Mahler spüren lässt, ist womöglich sein eigener.
Weil Seethalers Mahler aber von der Ewigkeit und dem Unendlichen nur sprechen kann, während er in einem nostalgisch-schwärmerischen Roman herumsteht, bleibt er letztlich eine Karikatur, und Seethalers Anverwandlung misslingt. Dass der Roman davon weiß, darin liegt die Tragik, in der er sich schließlich erfüllt.
Robert Seethaler : Der letzte Satz. Roman. Hanser Berlin, Berlin 2020. 128 Seiten, 19 Euro.