Dieses Jahr hat uns außer dem Vermächtnis von Stephen Hawking, dem berühmtesten Physiker der Gegenwart, nun auch ein entsprechendes Buch von Richard Dawkins beschert, dem heute renommiertesten Biologen, der zwar schon 77 Jahre alt, aber noch recht rüstig beieinander ist. Zusammen haben die beiden, Dawkins und Hawking, über Jahrzehnte hinweg die Doppelspitze im Olymp der populären Naturwissenschaft gebildet. Der Titel des umfangreichen Bandes, der eine große Anzahl von Aufsätzen, Reden, offenen Briefen und so weiter versammelt, verkündet im Ton letztgültiger Summierung: "Forscher aus Leidenschaft - Gedanken eines Vernunftmenschen" (im englischen Original "Science in the Soul - Selected Writings of a Passionate Rationalist").
Mensch und Forscher, Vernunft und Leidenschaft sollen also mit gleichem Nachdruck zu Wort kommen. Zu viel versprochen ist das nicht. Es tritt hier wirklich der ganze Dawkins auf: der hochgeehrte und doch umstrittene Wissenschaftler; der noch umstrittenere Kämpfer gegen Religion und Obskurantismus, der keine öffentliche Auseinandersetzung scheut; und schließlich auch der Privatmann.
Seine Antwort auf die zentrale Frage ist kühn wie konsequent - aber falsch
Der Wissenschaftler gibt noch einmal in gedrängter Form die Darstellung seiner These vom egoistischen Gen, der er seinen Ruhm verdankt. Nicht der einzelne Organismus kämpfe letztlich ums Überleben, dieser sei lediglich eine "Überlebensmaschine", zeitweiliger und stets zum Tod verurteilter Träger der eigentlichen "Replikatoren", der Gene. Dawkins betont immer wieder auch in diesem Buch, dass es wichtiger sei, die richtige Frage zu stellen, als eine bestimmte Antwort zu finden. Die richtige Frage stellt er zweifellos, sie lautet: Wer ist, auf die erhebliche Länge des Prozesses gerechnet, das eigentliche Subjekt, der Nutznießer der Evolution?
Seine Antwort darauf ist ebenso kühn und konsequent wie falsch, weil in ihr elementare Denkfehler stecken, die hier leider nicht nachgezeichnet werden können; es muss die Feststellung genügen: Hätte er ein Viertel des Scharfsinns, den er zur Erledigung seiner schärfsten Gegenspielerin aufbringt, der Theorie von der Gruppenselektion, für sein eigenes Werk verwendet, sie wären ihm aufgefallen.
Dawkins ist ein heroischer Vertreter der Wissenschaft. Zum Heroismus gehört es, dass er die eigenen Voraussetzungen nicht bedenkt. Zu Recht insistiert er, dass jeglicher Befund, der Anspruch erhebt, allgemein zu gelten, der Nachprüfbarkeit innerhalb des Systems unterliegen muss. Doch er hat kein Auge für den Wandel des Systems. Wenn er sein Bedauern äußert, dass ein so genialer Kopf wie Aristoteles dennoch die Lehre von der Evolution verfehlte, so zeigt dies vor allem, dass ihm der Sinn für die historische Bedingtheit dessen abgeht, was als Wahrheit und als Erklärung gilt. Das Ältere, Vorangegangene kann er nur als rätselhafte Umnachtung deuten.
An einer Stelle stößt, was Dawkins Vernunft nennt, an seine Grenze
Und er verschwendet keinen Gedanken daran, warum Darwin ausgerechnet im 19. Jahrhundert auftrat, dann aber sogleich durchschlagenden Erfolg erzielte. Die Evolutionstheorie komplettierte das bereits etablierte naturwissenschaftliche Weltbild, indem sie ihm gewaltsam auch den widerspenstigsten Teil der Welt unterwarf, das Lebendige - eine Gewalt, die Dawkins aus seinem wissenschaftlichen Bewusstsein verdrängt.
Stattdessen zitiert er fröhlich "die ersten Worte aus meinem ersten Buch" (man assoziiert Dagobert Duck und seinen ersten selbstverdienten Taler): "Sollten jemals höher entwickelte Lebewesen aus dem Weltraum die Erde besuchen, so werden sie, um unsere Zivilisationsstufe einzuschätzen, zuerst die Frage stellen: ,Haben sie die Evolution schon entdeckt?'" Dass diese Aliens die Evolutionslehre nicht mehr kennen könnten, so wie Aristoteles sie noch nicht kannte, liegt außerhalb seines Horizonts. Hier stößt, was er Vernunft nennt, an seine Grenze.
Die zweite Front, an der Richard Dawkins sich betätigt, verlangt ihm weniger denkerische Leistungen ab als vielmehr Nerven, Kraft und Zeit sowie die schwierige Kunst, mit seinem Zorn und seinem Witz hauszuhalten. Er kämpft (sogar mit eigener Stiftung) gegen die Religion, nicht etwa insofern sie ein Auswuchs wäre, sondern prinzipiell: In ihrem Prinzip, blinde Unterwerfung unter willkürliche Behauptungen zu fordern, sind die Religionen alle gleich, vom heuchlerischen Tony Blair bis zu den Mörderbanden der IS-Miliz. Vieles wirkt in der Wiederholung ermüdend.
Doch sollte man berücksichtigen, mit welchen Gegnern er sich herumschlagen muss, zum Beispiel mit den Schulbehörden von Alabama, die erzwingen, dass in die Biologie-Schulbücher ein "Einleger" platziert wird, der für den Kreationismus plädiert. Dawkins, der, wenn man ihn einlädt, unerschrocken auch nach Alabama geht, wohl wissend, dass er hier auf das "Reptiliengehirn" Amerikas stößt (im Unterschied zur "Großhirnrinde" an den Küsten), zerpflückt gnadenlos die intellektuelle Unredlichkeit dieses Pamphlets. Gegen Tücke und Bosheit der Fundamentalisten wird es nichts helfen, das weiß er.
Interview:"Religion ist ein Produkt unseres Gehirns"
Richard Dawkins ist der bekannteste Evolutionsbiologe unserer Zeit. Im SZ-Interview spricht er sich für eine wissenschaftlich fundierte Weltsicht aus - und klärt die Frage, ob man ausgestorbene Verwandte wie den Neandertaler wieder zum Leben erwecken sollte.
An Prinz Charles richtet er: "Ihre Reith-Vorlesung hat mich betrübt."
Das Buch ist aufschlussreich auch als Muster angelsächsischer Streitkultur. Man sagt nicht etwa: Kollege Sahlins erzählt Quatsch, o nein. Sondern: "Es ist bedauerlich für Sahlins, dass er der Versuchung erlag..." Oder: "Um ehrlich zu sein, würde ich wahrscheinlich ähnliche Unkenntnis und einen Mangel an Verständnis zu erkennen geben, wenn ich mich auf das Gebiet der Anthropologie begeben würde", dies natürlich, nachdem ein Anthropologe ihn kritisiert hatte. Der absolute Favorit aber ist: "X hat es einfach nicht verstanden." Das müssen sich sowohl der ansonsten geschätzte Kollege Stephen Jay Gould als auch der frühere britische Premierminister David Cameron anhören.
Dieser übrigens, nachdem er seinerseits festgestellt hatte, dass Dawkins es einfach nicht verstehe, nämlich das Christentum zur Weihnachtszeit. Dawkins beabsichtigte ursprünglich, seinen Text "Verstehen Sie es jetzt, Herr Premierminister?" zu betiteln, entschied dann aber, eine bloße Retourkutsche sei unter seiner Würde und wünschte Cameron in der Überschrift schlicht und ironisch fröhliche Weihnachten. Ähnlich verfährt er mit Prinz Charles, den er zunächst respektvoll als "Königliche Hoheit" anspricht, doch nur, um sogleich fortzufahren: "Ihre Reith-Vorlesung hat mich betrübt." Nicht, dass der Prince of Wales mit seinen bei dieser Gelegenheit geäußerten Ansichten schiefliegt, ist primäres Faktum, sondern Dawkins' Kummer hierüber, als wäre er ein Schuldirektor, der einen sympathischen, aber aufsässigen Knaben einbestellt.
Auf dem Cover ähnelt er einer John Cleese-Figur von Monty Python
Sich in solcher Weise äußern zu können, bedeutet eine Freiheit und ein Privileg. Dawkins kostet beides aus. (Wann widerspricht einem schon mal ein Premierminister?) Aber er reflektiert nicht, wie sehr die Situation von den britischen Klassenverhältnissen abhängt. Der Klasse entrinnt in England nichts, kein Mensch und kein Problem. Am deutlichsten wird das in zwei dialogischen Humoresken des vielgestaltigen Bandes. Ein Herr besucht eine Bar und lässt sich vom Barkeeper aufklären über die Evolutionstheorie. Der Barkeeper produziert Sätze wie diesen: "Ich hoffe, Sir, Sie werden es mir nicht als übermäßige Freiheit auslegen, wenn ich sage, dass ich geneigt bin, Ihnen zuzustimmen."
Der Herr seinerseits, der unverkennbar Züge von Dawkins selbst trägt, spricht hingegen so: "Verdammt, Jarvis, Sie haben recht." Der Diener ist klüger als der Herr, das versteht sich von selbst. Aber dass dies den Herrn nicht genieren muss, der keine Klugheit braucht, um zu bleiben, was er ist, darin steckt der tief konservative Kern aller Komödie. Im letzten Teil entspannt sich Dawkins privat und schreibt Huldigungen für verstorbene Kollegen und Familienmitglieder, reichlich gewürzt mit Anekdoten. Besonders sein Onkel A. F. Dawkins, genannt Bill, hat es ihm angetan, ein Kolonialbeamter von altem Schrot und Korn.
Eines Tages hat der Neffe mitgehört, wie jemand bemerkte, der Onkel (der grade im Fernsehen kam) sehe aus wie "ein Mann, der gewohnt ist, Männern Befehle zu erteilen". Dawkins zitiert diesen Satz, teils kursiv, viermal auf acht Seiten. Danach blickt man anders auf den Umschlag des Buchs (das darf man nämlich schon, aber erst nach der Lektüre): Da steht Richard Dawkins, die Arme verschränkt, das Kinn hochgereckt und energisch, ohne Lächeln, die Augen streng und starr auf den Betrachter gerichtet - und plötzlich begreift man, dass er selbst gern der Mann wäre, dem die Bemerkung galt. Er sieht aus wie der Typus, den John Cleese von Monty Python sein ganzes Leben hindurch parodiert hat. Aber wahrscheinlich ist das ungerecht. Man sollte Richard Dawkins den Respekt nicht versagen, dass er immer wahrhaft die Wahrheit gewollt und für sie gekämpft hat - wenn er sie auch, aus teils sehr persönlichen Gründen, nicht in vollem Umfang zu erkennen vermochte.
Richard Dawkins: Forscher aus Leidenschaft. Gedanken eines Vernunftmenschen. Herausgegeben von Gilian Somerscales. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Ullstein Verlag, Berlin 2018. 524 Seiten, 26 Euro.