Gentechnik:Atemberaubend, wie schnell sich Humangenetik zum Konsumprodukt entwickelt

Gentechnik: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Die Welt ist schockiert über Genmanipulationen in China. Wenn schon ein windiger Forscher wie He einen solchen wissenschaftlichen Gewaltakt hinbekommt, wer soll dann andere bremsen?

Von Andrian Kreye

Es erscheint erst einmal erschreckend einfach, wenn man die Genschere Crispr ausprobiert. Crispr ist jenes biotechnische Instrument, mit dem der chinesische Wissenschaftler He Jiankui das Erbgut der Babys Lulu und Nana manipulierte, um sie gegen das HI-Virus ihres leiblichen Vaters zu immunisieren. Die beiden wurden irgendwann im November dieses Jahres geboren und lösten als Inkarnation eines unumkehrbaren historischen Tabubruches weltweit Entsetzen aus. Sie sind der Grund dafür, dass He Jiankui in China nicht weiterforschen darf.

Crispr also. Man sitzt bei einem der Workshops, die in den USA schon für Schulkinder angeboten werden, vor einem handelsüblichen Laptop. Die Eingabemaske des Programms unterscheidet sich nicht sonderlich von üblichen Textverarbeitungsprogrammen, nur ergeben die Buchstabenreihen eben keinen Text, sondern ein Genom. Und mit Crispr kann man es ähnlich mühelos gestalten wie einen Text. Copy. Paste. Enter. Schon ist die Sequenz der DNA und damit das Erbgut verändert. Bei den amerikanischen Workshops kann man damit lustige Dinge anstellen, zum Beispiel Hefe zum Leuchten bringen.

Warum sollte es auch schwierig sein? Folgt man der Erklärung, dass Gene das Alphabet der Biologie sind und der Biochemiker Craig Venter mit der ersten Entschlüsselung eines menschlichen Genoms im Jahr 2000 der Menschheit das Lesen beibrachte, dann ist Crispr so etwas wie die erste Schreibmaschine.

Die Molekularbiologin, die solche Workshops in ihrem Biohacking-Labor Genspace in Brooklyn, aber auch auf internationalen Tech-Konferenzen veranstaltet, heißt Ellen Jorgensen, eine geduldige Frau mit einem sehr vernünftigen Anliegen. Sie möchte weniger Wissen und Fertigkeiten vermitteln als vielmehr Verständnis. Denn das Genome Editing, wie die neue Technik auch im deutschen Sprachgebrauch heißt, ist eine so vielversprechende Technologie, dass die vielen Mythen, die es umgeben, den Fortschritt nur bremsen können.

Wenn ein windiger Forscher wie He einen solchen Gewaltakt hinbekommt, wer soll andere bremsen?

Der Fall Lulu und Nana ist für ihre Bildungsarbeit ein Desaster. Wenn ein windiger Forscher wie He einen solchen wissenschaftlichen Gewaltakt hinbekommt, wer soll dann andere bremsen? He Jiankui ist ja kein angesehener oder gar visionärer Forscher. Er leitet kein Institut, arbeitete an Lulu und Nana nicht einmal in einem Forschungsinstitut. Der Gentechniker ist "associate professor" an der Southern University of Science and Technology (SUSTech) im chinesischen Shenzhen. Das entspricht in Deutschland dem Rang des Hochschuldozenten. Er führte seine Arbeit aber nicht an der SUSTech durch, sondern während eines Sabbaticals. Dafür verwendete er einen Teil jener rund 40 Millionen Dollar Investitionen in seine beiden Start-ups für Biotechnologie. Über die Shenzhen-Filiale der Harmonicare-Kette von Frauen- und Kinderkliniken fand er jene sieben Paare, die sich auf seine Experimente einließen. Die Frau eines zweiten Paares soll ebenfalls schwanger sein.

Schon jetzt wird vermutet, dass die genmanipulierten Zwillinge ein Publicity Stunt waren, um neues Risikokapital für seine Firmen zu generieren. Immerhin engagierte He Jiankui nicht nur wissenschaftliche Mitarbeiter, sondern auch eine Public-Relations-Firma. Er veröffentlichte sein Projekt nicht in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, sondern auf Youtube.

So überraschend ist das nicht. Denn Lulu und Nana sind nicht nur das Produkt eines chinesischen Schurkenlabors, sondern entsprechen auch dem Zeitgeist einer Ära, in der Hochtechnologien von der künstlichen Intelligenz über die Raumfahrt bis zur Genbiologie die sogenannte Marktreife erlangen, die sie zu Konsumprodukten machen. Neue Technologien sind vor allem ein Geschäft. Europa, Amerika und China kämpfen um künftige Weltmarktführerschaft. Und die Ideologie des Transhumanismus nimmt der Technologiegläubigkeit die letzten Hemmungen.

Die Geschwindigkeit, mit der sich die Humangenetik vom Thema der Grundlagenforschung zum Konsumprodukt entwickelte, ist atemberaubend. Als Craig Venter im Jahr 2000 als Erster ein vollständig entschlüsseltes menschliches Genom veröffentlichte, gingen dem jahrelange Forschungsanstrengungen voraus, die drei Milliarden Dollar kosteten. 2007 kamen die ersten Testkits des Google-Tochterunternehmens 23andMe auf den Markt, mit denen man für kleines Geld seine Herkunft feststellen konnte. Inzwischen gibt es Dutzende Konkurrenzprodukte. Neben der Herkunft kann ein Kunde angeblich auch Gesundheitsrisiken und Veranlagungen herausfinden.

Amerikas Linke möchten gern von den Indiandern abstammen, die Rechten eher von den Gründervätern

Er bekommt von der Firma Vitagene zum Beispiel für 89 Dollar eine Schachtel mit Anleitung, zwei langen Wattestäbchen und zwei Reagenzgläschen aus Plastik. Mit den Wattestäbchen tupft man sich ein wenig Speichel aus dem Mund. In den Reagenzgläschen schickt man sie ein und kann ein paar Wochen später die Ergebnisse über einen Weblink abrufen.

Die genealogische Analyse ist für Amerikaner ein großes Ding. Linke hoffen, dass sie vielleicht ein bisschen von den Indianern abstammen, was ihren Aufenthalt auf dem Kontinent rechtfertigen würde, den ihre Vorfahren so brutal eroberten. Konservativen ist es am liebsten, dass sie zu irgendeinem Grad Nachfahren der Pilgerväter und somit Teil des inoffiziellen Adels der Nation sind.

Für die meisten Europäer ist das nicht ganz so interessant und erinnert außerdem unangenehm an den Ariernachweis. Dem Autor dieses Textes bescheinigte Vitagene jedenfalls, dass 90,11 Prozent seiner Gene aus West- und Zentraleuropa stammen, 2,77 Prozent von den britischen Inseln, 1,41 Prozent aus Finnland und 1,31 Prozent aus (Völkerwanderung!) Indien. Das hat vor allem Unterhaltungswert, weil die Daten lediglich Hochrechnungen sind, die von sogenannten Snips abgefragt werden, genetischen Markern, die in seriösen Verfahren Hinweise auf Erbkrankheiten und Veranlagungen geben können, ansonsten aber nur wenig verraten. Deswegen sollte man die medizinischen Hinweise von Vitagene auch nicht so ernst nehmen. Die Tests spiegeln die Demokratisierung der Genforschung vor, sind aber vor allem ein Riesengeschäft. Und Biotechnologie gehört neben künstlicher Intelligenz zu den aktuellen Wachstumsfeldern, in die Wirtschaftsnationen viel Geld investieren.

Gentechnik: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Ähnlich wie bei der Digitalisierung sind die drei größten Konkurrenten beim Kampf um die Zukunft in der Reihenfolge ihrer Weltmarktmacht die USA, China und Europa. China investiert dabei am meisten staatliches Geld in den Wettlauf. Es sind aber vor allem die USA, die einzelnen Wissenschaftlern als Vorbild dienen. Dort gipfeln Forscherkarrieren schon lange nicht mehr in Professuren und Forschungspreisen. Das Lebensziel eines Wissenschaftlers besteht darin, mit den akademischen Forschungen als Grundlage eine Firma zu gründen. In der Informatik ist das längst Standard. Mark Zuckerberg begann seine Arbeit an Facebook an der Harvard University, Larry Page und Sergej Brin bauten ihre erste Suchmaschine an der Stanford University. Inzwischen sind sie Multimilliardäre.

In der Biologie ist die Praxis ebenfalls verbreitet. George Church vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) ist einer der brillantesten Wissenschaftler unserer Zeit. Er ist auch ein erfolgreicher Unternehmer, der beispielsweise einen Service anbietet, bei dem man sein wirklich komplettes Genom entschlüsseln und für die Ewigkeit speichern lassen kann, in der Hoffnung, dass die Wissenschaft irgendwann heilen kann, was noch unheilbar ist.

Da ist man dann schon beim Transhumanismus, einer Ideologie, die davon ausgeht, dass die technische Entwicklung für alle menschlichen Leiden und Unzulänglichkeiten eine Lösung finden wird. Im Technologiekorridor der amerikanischen Westküste, der von Vancouver bis San Diego reicht, gibt es eine regelrechte Bewegung. Der Immobilieninvestor Zoltan Istvan gründete sogar eine transhumanistische Partei, für die er sich 2016 als Präsidentschaftskandidat aufstellte.

Istvan erinnert mit seinem kantigen Kiefer und seiner Athletenfigur an einen altmodischen Marvel-Helden. Spricht man mit ihm, erläutert er einem in Small-Talk-Sprints, warum Technologie dem Menschen überlegen ist, dass es sich bald lohnen wird, sich die Arme amputieren zu lassen, weil Roboterarme so viel besser sind, und dass der Transhumanismus den Tod überwinden wird.

Der russische Philosoph Nikolaj Fjodorow wollte den Tod überwinden und das Weltall besiegen

Das erinnert an die erstaunlich einflussreiche Bewegung der Kosmisten um den russischen Philosophen Nikolai Fjodorow, die im späten 19. Jahrhundert von der Auferweckung der Toten und ihrer Ansiedelung im Weltall träumten. Und es wäre ähnlich unterhaltsam und unhaltbar wie die Gentests aus dem Supermarkt, würde der Transhumanismus nicht längst die Philosophie des Silicon Valley durchziehen. Wenn die Popstars dieser neuen Elite Millionen und Milliarden für Beglückungsfantasien ausgeben, wenn Bill Gates im Alleingang tropische Krankheiten ausrotten, Elon Musk die zum Untergang verdammte Menschheit auf den Mars bringen und der vergleichsweise bescheiden wohlhabende Istvan Zoltan die Sterblichkeit abschaffen will, wie soll man Menschen wie He Jiankui daran hindern, sich in der Hoffnung auf den Aufstieg in den Kreis der Milliardäre mit einem wissenschaftlichen Tabubruch zu etablieren, wenn dieser technisch so einfach geworden ist?

Den Profitgedanken weist er natürlich von sich. He Jiankui sagt, er handele im Dienste der Menschheit und des Fortschritts. Dabei hat er dem Vertrauen in die Wissenschaft nachhaltig geschadet.

Jeder wissenschaftliche Tabubruch zieht über die akademische Ethikdebatte hinaus eine Welle moralischer Empörung nach sich. In ihrem Kielwasser werden häufig antiaufklärerische Impulse spürbar, die den Fortschritt bremsen können. Das Klonschaf Dolly etablierte vor 22 Jahren ein tiefes Misstrauen der Weltöffentlichkeit in die Gentechnik, dessen Berechtigung He Jiankui erneut bestätigt.

Und da ist man wieder bei Ellen Jorgensen. So einfach es ja ist, das Genom im Crispr-Programm umzuschreiben, so schwierig ist es, die Genmanipulation dann auch umzusetzen. Das funktioniert eben nur in einem Labor. Der Aufwand für den effektiven Austausch der DNA-Stränge mag sehr viel geringer geworden, die Kosten gesunken sein. Aber Crispr soll nicht Hochtechnologie demokratisieren, sondern die Forschung beschleunigen.

In den Labors von seriösen Wissenschaftlern kann Crispr viel Gutes bewirken. In der Krebsforschung, der Suche nach Mitteln gegen das HI-Virus und gegen die Malaria hat das Werkzeug enorme Fortschritte ermöglicht. Der Genom-Entschlüssler Craig Venter züchtet gerade Algen, die Energie produzieren und irgendwann als alternativer Kraftstoff dienen könnten. Das sind visionäre, aber streng reglementierte Projekte. Denn Biowissenschaftler wissen sehr wohl darum, wie weitreichend die Folgen ihrer Arbeit sind. Immerhin hat sich die Gemeinschaft der Genforscher schon 1975 bei der Asilomar Conference on Recombinant DNA auf Richtlinien geeinigt, die sie bis heute befolgen und die bisher Schlimmstes verhinderte. He Jiankui hat sie nun gebrochen.

Da unterscheidet sich die Gentechnik auch vom anderen umstrittenen Forschungsfeld der künstlichen Intelligenz (KI). Sie basiert auf Maschinen und Programmen, die Menschen entwickelt haben. Maschinen kann man ausschalten. Genetik ist allerdings das Ergebnis einer einzigartigen Verkettung glücklicher kosmischer Zufälle, die zu einem ebenso einzigartigen Wesen Mensch geführt hat. Jeder Eingriff ist ein Herumpfuschen in einem Entwicklungsprozess, der vor etwa 13 Milliarden Jahren mit den ersten Klümpchen Sternenstaub begann. Was die Wissenschaft mit Gentechnik in Bewegung setzt, betrifft die ganze Menschheit. Niemand weiß, welche Krankheiten Lulu und Nana entwickeln oder vererben werden. Doch nun sind sie in der Welt.

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