Theater:Mensch frisst Mensch

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Mit Keks und Kaffee tut die Katastrophe nicht weh: Vincent Glander, Simon Zagermann, Carolin Conrad, Hanna Scheibe (v. l.). (Foto: Birgit Hupfeld)

Alexander Eisenach inszeniert sein Stück "Der Schiffbruch der Fregatte Medusa" im Marstall des Münchner Residenztheaters.

Von Egbert Tholl

Wenn man gerade Franzobels vor ein paar Jahren erschienenen Roman "Das Floß der Medusa" gelesen hat, ist man gleichermaßen sehr gut und sehr schlecht vorbereitet auf diese Unternehmung. Gut, weil man nach den knapp 600 Seiten der Lektüre wirklich jedes historische Detail zu wissen glaubt, das in Zusammenhang mit dem berühmt gewordenen Schiffbruch im Jahre 1816 steht und man deshalb in der Aufführung Dinge sieht und versteht, die gar nicht da sind. Schlecht, weil Alexander Eisenach natürlich etwas ganz anderes in Sinn hat, als allein Geschehnisse nachzustellen, die sich vor 200 Jahren ereignet haben, obwohl er für seinen eigenen Text auch die Berichte der damals Überlebenden Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard gelesen hat.

Eisenachs Stück "Der Schiffbruch der Fregatte Medusa", das er nun selbst im Marstall des Münchner Residenztheaters inszenierte, nutzt die historischen Ereignisse als Metapher für ein viel größeres, allgemein gültiges Menschheitsproblem, es schilt die Reichen, die Ausbeuter, die Klimavernichter und die Neokolonialisten, und es wäre grundböse und voller Zorn, hätte Eisenach als Regisseur nicht einen gewissen Hang zu Albernheiten. Doch selbst so wirkt es noch.

Zu Beginn schaut man auf eine raumfüllende Plastikplane, und der Schauspieler Niklas Mitteregger, gekleidet wie ein Tourist aus dem Geschichtsseminar, macht sich auf, das damalige Geschehen zu erkunden. 1816 brach eine kleine Flotte von Frankreich Richtung Senegal auf, um die dortige englische Kolonie wieder zu einer französischen zu machen. Die Medusa war das Flaggschiff, auf ihr reisten 200 Soldaten, viele Seeleute, der künftige Gouverneur und einige Passagiere, die von großartigen Plantagen in Westafrika träumten. Blöderweise war der Kapitän Chaumarey ein unfähiger Trottel, der den Job nur bekam, weil Napoleon gerade verjagt worden war und er zu den Royalisten gehörte; sein einziger Verbündeter an Bord war der Aufschneider Richefort, der von Seefahrt überhaupt keine Ahnung hatte, der Gouverneur war ein blasierter Idiot, der vor allem Sorge trug für sein wichtigstes Frachtgut, eine Guillotine.

Die Szene, in der Carolin Conrad (Richefort), Hanna Scheibe (Gouverneur), Simon Zagermann (Kapitän) und Myriam Schröder (alles mögliche) in schon damals aus der Zeit gefallenen Rokokokostümen von Claudia Irro vor der trüben Plastikplane die ganze Überheblichkeit des Leitungspersonals darstellen, voller Lust, Schärfe und Witz, ist die schönste des Abends. Kabbeln müssen sie sich außerdem mit zwei bordeigenen Revoluzzern in Grellgelb, Lukas Rüppel und Vincent Glander, beide schneidend scharf und artistisch beeindruckend.

Eine blasierte Gesellschaft auf dem Weg in den Untergang. (Foto: Birgit Hupfeld)

Chaumarey setzte die Medusa zielsicher auf eine Sandbank vor dem Senegal, rettete sich und die Reichen und vermeintlich Wichtigen in die Rettungsboote, für die, die dort keinen Platz erhielten, wurde schnell ein Floß gezimmert. Auf diesem standen 150 Menschen bis zur Hüfte im Meerwasser, schnell kappte man die Schleppleine, überließ die Menschen mit sehr wenig Proviant ihrem Schicksal. Nach zwei Tagen brach die Katastrophe vollends aus, die Menschen brachten sich gegenseitig um, von den Leichen ernährten sich die anderen, 15 Menschen überlebten, zwei davon schrieben Berichte, Théodore Géricault malte sein berühmtes Gemälde, Frankreich hatte einen Riesenskandal.

Eisenach zeigt dies mit musikalischer Unterstützung von Benedikt Brachtel und Sven Michelson sowie allerlei Livevideo-Gedöns, das als Form seltsam abgestanden wirkt, lässt auf der nun mehr oder weniger offenen Bühne, einem grindigen Schiffsbauch, lustige Hysterien aller Arten zu und dreht die Schraube mit Lust und Wut weiter. Das Floß denkt er dabei als Raumschiff oder Luxusyacht, Orte und Zeiten verschwimmen, aber im Kern geht es immer ums selbe: Die, die sich retten können, versuchen sich mit gnadenlosem Egoismus zu retten (und scheitern dabei). Was kümmert einen der Zustand der Welt, den man mit Gier, Wachstumswahn und völliger Verantwortungslosigkeit selbst herbeigeführt hat, wenn man im All herumfliegt oder auf der eigenen Milliardärsinsel hockt. Der Schiffbruch offenbart den Zivilisationsbruch, in dem wir uns längst befinden. Am Ende geht es dem Geschichtstouristen an den Kragen: Die hungrigen Kollegen machen sich über Niklas Mitteregger her.

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