"Remix 3" von Stuckrad-Barre:Voll neben der Höhe der Zeit

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Benjamin von Stuckrad-Barre galt als ultimativ zeitgenössischer Autor. Seine neue Textsammlung "Remix 3" aber hinkt der Gegenwart hinterher. Macht ihn das weniger gut?

Von Julian Dörr

Mal einen Text über Benjamin von Stuckrad-Barre oder über ein neues Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre schreiben, ohne gleich wieder die ganze Junkie-Story auszubreiten. Das wäre doch was. Die Magersucht, die nur vom Koks erträglich gemachte Fahrigkeit des Seins, der Taumel, das Hinfallen, das Aufstehen. Stuckrad-Barre, krasser Typ, krasse Geschichte. Wissen wir. Hat er außerdem selbst final auserzählt, in der wirklich sehr guten und sehr feinsinnig rasenden Halbautobiografie "Panikherz" vor zwei Jahren. Jetzt also ein neues Buch, "Remix 3", der dritte Teil von Stuckrad-Barres gesammelten Geschichten, und der volle Titel verführt einen ja schon wieder zum alten Junkie-Story-Reflex: "Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen".

Aber gut, dem wird jetzt widerstanden, am besten man fängt ganz woanders an, nämlich: bei der Werbekampagne zum neuen Buch, die Stuckrad-Barre höchstselbst auf Instagram abgefeuert hat. Über Wochen ließ er da Leute in kleinen Videoschnipseln für "Remix 3" werben, Normalo-Fans und Promi-Freunde-Fans. Klaas Heufer-Umlauf war dabei und Olli Schulz, Clueso, Jan Josef Liefers, Smudo, Tokio Hotel, Fatih Akin, Till Brönner und Udo Lindenberg natürlich, der große Schutzengel. Marketingtechnisch ist Stuckrad-Barre auf der Höhe der Zeit. Was man von seinem neuen Buch nicht behaupten kann.

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"Ich glaub, mir geht's nicht so gut..." sammelt Geschichten aus den vergangenen zehn Jahren, die meisten davon sind Porträts. Porträts von Wegbegleitern, manche persönlich, manche intellektuell, oft beides. Mit Boris Becker schaut Stuckrad-Barre das berühmte Wimbledon-Finale von 1985, mit Ferdinand von Schirach flaniert er touristenhassend durch Venedig, mit Rainald Goetz besucht er das Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park. Er schläft in Jürgen Flieges Keller, schaut Christian Ulmen beim In-die-Rolle-Schlüpfen zu, schreibt ein Drehbuch mit Helmut Dietl.

Was bleibt vom gegenwärtigsten Schreiber des Landes, wenn man ihm die Gegenwart nimmt?

Was einem schon unmittelbar beim Blick auf die Namensliste auf dem Buchrücken auffällt: es ist keine einzige Frau dabei, mit Ausnahme von Madonna, deren L.A.-Konzert Stuckrad-Barre besucht. "Einen besseren Chronisten unserer Zeit gibt es nicht", lässt sich die Wochenzeitung Die Zeit auf dem Buchrücken zitieren. Unsere Zeit scheint eine sehr männliche zu sein. Es gibt da aber noch ein anderes Problem. Stuckrad-Barres Protagonisten stammen zu großen Teilen aus dem Deutschland der Neunzigerjahre, ihre Geschichten sind die Geschichten von Männern, die einst etwas gewesen sind. Boris Becker, der einst der große deutsche Held war, bevor ihn das Land in die Lächerlichkeit des Ruhestands verabschiedete. Jürgen Fliege, der einst der große deutsche Fernsehseelsorger war, bevor er zum "Fliege-Essenz" verscherbelnden Quacksalber wurde. Helmut Dietl, der einst der große deutsche Erzähler und Bullshit-Detektor war, bevor er das Publikum mit seinem letzten Film "Zettl" in Verlegenheit brachte.

Stuckrad-Barre begegnet diesen Strauchelnden mit einer von Nostalgie gewärmten Empathie. Über Boris Becker schreibt er: "Wenn sogar dieser Mann uncool und zuweilen lächerlich RÜBERKOMMT in den Medien, dann sagt das weniger über ihn als über die Medien selbst, diese Ikonenzerbröselungsmaschinerie, die noch jeden zermalmt hat, die SOGAR Boris Becker lächerlich aussehen lässt." Die "Ikonenzerbröselungsmaschinerie", eines dieser atemlosen Stuckrad-Barre-Komposita. Allein, neu ist die Idee dahinter (Medienkritik im Zeitalter der Beliebigkeitsberühmtheit) nicht. Liest man "Ich glaub, mir geht's nicht so gut...", kommt man deshalb nicht umhin, sich hin und wieder die Frage nach Relevanz und Bedeutung von Stuckrad-Barres Geschichten für die Gegenwart, ihre Themen und Probleme zu stellen. Stuckrad-Barre ist nicht "Chronist unserer Zeit", er ist zum Chronisten einer Zeit geworden. Stuckrad-Barre, der Pophistoriker.

Nun war Stuckrad-Barre seit seinem Debüt "Soloalbum" 1998 immer ein ultimativ zeitgenössischer Autor. Seine Kritiker sagen: Er war immer nur ein ultimativ zeitgenössischer Autor. Sein neues Buch birgt also die Antwort auf die Frage: Was bleibt vom einst gegenwärtigsten Schreiber des Landes, wenn man ihm die Gegenwart nimmt?

Zunächst einmal wäre da die Sprache. Diese Sprache, die so plaudernd daherkommt, aber mitnichten ein Plappern ist, die genau weiß, wann sie präzise sein soll und wann sie ausschweifen muss. Wenn Stuckrad-Barre die Spieler der deutschen Fußballnationalmannschaft als "jetztjung" bezeichnet oder Autorenkollegen "auchschreibende Leute" nennt oder eben Venedig als eine "auf Abermillionen von Holzpfählen trotzig ins Nichts behauptete Stadt" beschreibt. Diese Sprache behauptet ja noch immer absolute Gegenwart, auch wenn der Gegenstand, den sie beschreibt, nicht mehr die Gegenwart ist.

Und dann gibt es da noch die Kurzgeschichte "Tattoos", sie steht ziemlich genau in der Mitte des Buches und zählt zum Schönsten und Besten, was Stuckrad-Barre je geschrieben hat. Was sie so besonders macht, ist ihr absolutes und bewusstes Positionbeziehen in einer Sache, in der man eigentlich nur peinlich werden kann, wenn man absolut und bewusst Position bezieht: die Liebe. Stuckrad-Barre, der ewige Zerdenker, zerdenkt einmal nicht: "Für immer? Aua. Gegen immer, das hatten wir gedacht. Doch seit unserem Zusammentreffen, das ein Auffahrunfall war, haben wir das Denken aufgegeben." Zwei Menschen, ein gemeinsames Tattoo.

Obwohl Stuckrad-Barre diese Geschichte ganz exakt verortet (ein Tätowierstudio in Neukölln, 17 Uhr 57 an einem Freitag), gelingt ihm etwas, was den meisten seiner Erzählungen abgeht. "Tattoos" ist eine zeit- und ortlose, allgemeingültige Geschichte. Brutal naiv und gänzlich ironiefrei. Der Autor wirft sich selbst über Bord, Sätze und Erkenntnisse, die er aus den Gesprächen mit anderen Protagonisten seines Buches gewonnen hat, tauchen hier, mitten im Leben, wieder auf. "Die Fehler, die allein müssen richtig sein." Das ist so ein Dietl-Satz, den Stuckrad-Barre seinem Porträt-Kontext entreißt, und der hier in seiner ganzen Wucht auf den Leser prallen darf. Die Erkenntnis: Nirgends ist Stuckrad-Barre mehr im Jetzt als im Für-Immer.

© SZ vom 28.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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