Rechtsradikale Vorfälle:Unser Chemnitz ist ganz anders

Chemnitz - Konzert

Als klugen, nachdenklichen, zugleich bescheidenen und humorvoll-skeptischen Menschenschlag empfinden die Autoren die Chemnitzer - hier Zuschauer Anfang September während eines Konzerts unter dem Motto "#wirsindmehr" vor der Johanniskirche.

(Foto: Sebastian Willnow/dpa)

Nicht erst seit den jüngsten Aufmärschen der Rechtsradikalen ist Chemnitz eine Chiffre für radikalen Fremdenhass. Unsere Autoren können diese Vorstellung ganz und gar nicht teilen. Eine Entgegnung.

Gastbeitrag von Bernadette Malinowski und Winfried Thielmann

Schon einige Jahre vor der Flüchtlingskrise fiel uns auf - komplexe Phänomene brauchen anscheinend eine einfache Chiffre -, dass der Name Chemnitz in den überregionalen Medien sehr häufig auf eine Weise in Verbindung mit Antisemitismus und Rechtsradikalismus gebracht wurde, dass er dafür schon fast als Synonym zu stehen schien. Dies brachten wir mit unseren Erfahrungen mit dieser Stadt nicht zusammen.

Professoren sind qua Hausberufungsverbot Binnenmigranten. Als Binnenmigranten kamen wir an die Technische Universität Chemnitz. Unsere inzwischen mehrjährigen Erfahrungen mit der Stadt sind also die Erfahrungen von Zugereisten. Aus Bayern kommend, haben wir in der Stadt eine äußerst gastfreundliche Aufnahme erfahren und waren innerhalb kurzer Zeit weit über das Biotop Universität hinaus mit Chemnitzern verschiedenster Professionen und Altersgruppen vernetzt, woraus viele schöne Freundschaften erwachsen sind. Wer hier allein in eine Kneipe geht und sich unterhalten möchte, wird aufs Beste unterhalten nach Hause gehen. Er trifft auf einen klugen, gewitzten, nachdenklichen, zugleich bescheidenen und humorvoll-skeptischen Menschenschlag, der dem Fremden, der ihm auf Augenhöhe begegnet, aufs Freundlichste entgegenkommt.

Zur Zeit der Flüchtlingskrise haben sich unsere durchgängig erfreulichen Erfahrungen mit der Stadt und ihren Menschen noch erheblich verdichtet. Buchstäblich über Nacht wurde damals ein Gebäude der TU Chemnitz zur Erstaufnahmeeinrichtung erklärt, kurze Zeit später ein weiteres, sodass auf dem recht überschaubaren Campus Reichenhainer Straße zeitweise mehr als 700 Flüchtlinge beherbergt waren.

Die Ankunft der Flüchtlinge hat das Stadtbild verändert

Diese Menschen hatten keine Winterkleidung, keine Beschäftigung, keine Spielsachen für ihre Kinder, keine Bücher, keine Kommunikationsmöglichkeiten. Diesbezüglich hatte der Freistaat Sachsen keine Strukturen vorgesehen. Die Situation auf dem Campus löste eine überwältigende Welle der spontanen Hilfsbereitschaft zunächst unter den Studierenden der TU Chemnitz, rasch aber auch unter Chemnitzer Bürgerinnen und Bürgern aus: Binnen kürzester Zeit häuften sich im Dekanat der Philosophischen Fakultät kistenweise Bücher in allen möglichen Sprachen, Kleidung, Schuhe, Spielzeug. Es sprudelten Ideen ein, wie man die Flüchtlinge und insbesondere auch die Kinder beschäftigen könnte, wie man den Flüchtlingen über Sprachhilfe elementare Kommunikationsmöglichkeiten verschaffen könnte. Und es flossen auf ein Konto der Gesellschaft der Freunde der TU Chemnitz substanzielle Spenden. Hier war die Koordination von sehr viel Improvisation angesagt, was nicht zuletzt durch die unbürokratische Unterstützung der Universitätsverwaltung gelungen ist.

Zugleich hat die Stadt Chemnitz unter Führung der sozialdemokratischen Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig - die geschichtsträchtige Industriestadt ist seit 1993 kontinuierlich sozialdemokratisch regiert - trotz des hohen Problemdrucks eine nur als vorbildlich zu bezeichnende Integrationspolitik umgesetzt, angefangen mit der dezentralen Unterbringung von Flüchtlingen bis hin zur weitsichtigen Planung und Anmahnung von Ressourcen für die Qualifikation von DaZ-Lehrern in Vorbereitungsklassen.

Mitunter ist die Stadt Chemnitz trotz ihres äußerst umsichtigen Agierens zu Unrecht in die Kritik geraten, da ihr Vorfälle, die sich in der unmittelbar am Stadtrand befindlichen und allein vom Freistaat Sachsen kontrollierten Erstaufnahmeeinrichtung in Ebersdorf ereigneten, angelastet wurden. Wir jedoch, die wir seinerzeit mitten im Geschehen standen, waren stolz auf unsere Universität und unsere Stadt. Es soll hier auch nicht unerwähnt bleiben, dass die kleine Nachbargemeinde Stollberg, mit der wir in engem Austausch gestanden sind, unter der Führung ihres Bürgermeisters Marcel Schmidt (Freie Wähler Union) ebenso vorbildlich agiert hat.

Rechtsradikale machen aus Chemnitz keine rechtsradikale Stadt

Durch die Ankunft der Flüchtlinge in Chemnitz hat sich das Stadtbild grundlegend verändert. Man muss sich klarmachen, dass Chemnitz - abgesehen von seit Jahrzehnten hier lebenden Vietnamesen und natürlich der bunten Studierendenpopulation der internationalen TU Chemnitz - eine weitgehend bevölkerungshomogene Stadt gewesen ist. Wer 2014 an der Zentralhaltestelle, dem öffentlichen Verkehrsknotenpunkt der Stadt, stand, sah fast ausschließlich Sachsen. Seit Herbst 2015 sieht es an der "Zenti" so aus wie in jeder von Migration geprägten deutschen Großstadt.

Die Vorfälle passen ins Bild, das überregionale Medien von Chemnitz zeichnen

Man kann sagen, dass der Umgang mit Zuwanderung, der in Westdeutschland über etliche Jahrzehnte - und keineswegs unproblematisch - erlernt worden ist, für die Bürgerinnen und Bürger von Chemnitz eine Übernachtanforderung gewesen ist. Sicher können sich noch viele an das kritische Beäugen von Fremden im Westdeutschland der Siebzigerjahre erinnern, und es ist kein Wunder, dass es das hier in Chemnitz auch gibt. Wir sehen dennoch durchweg ein friedliches Miteinander, und das Fähnlein der Cegida-Bewegung, deren Montagsdemonstrationen von Woche zu Woche geschrumpft sind, wurde am Schluss nur noch von sieben Verbogenen und Verbiesterten getragen.

Nähern wir uns der Gegenwart. Die Tötung eines Deutsch-Kubaners und die Verletzung zweier seiner Freunde hatte es zur Folge, dass Chemnitzer Rechtsradikale, die es zweifelsohne gibt, hierin eine Rechtfertigung dafür erblickten, ihrerseits Straftaten zu begehen. Aber diese Rechtsradikalen machen Chemnitz nicht zu einer rechtsradikalen Stadt.

Wenn dann ein bundesweit angereister rechtsradikaler hitlergrußzeigender Mob durch die Straßen von Chemnitz zieht und dagegen demonstrierende Vertreter der Zivilgesellschaft das Fürchten lehrt, ist dies weder ein Versagen der Regierung der Stadt Chemnitz noch ein Versagen ihrer Bürgerinnen und Bürger, sondern es ist das Versagen der Exekutive, die es kontinuierlich versäumt, verfassungsfeindliche Aktionen gerichtswirksam zu dokumentieren, die Straftäter dingfest zu machen und der Anklage zuzuführen.

Diese Vorfälle scheinen nur zu gut in dasjenige Bild passen, das schon vor der Flüchtlingskrise in den überregionalen Medien von Chemnitz gezeichnet worden ist. Es kann jedoch nicht angehen, dass die vielfältigen Anstrengungen der Stadt, ihrer Institutionen und ihrer Bürger, sich aus der in jeder Hinsicht absolut desolaten, durch massive Abwanderung geprägten Situation nach der Wende heraus neu zu erfinden, durch die undifferenzierte Affirmation eines bestehenden Bildes zunichtegemacht werden. Wir wollen keineswegs hässliche und widerliche Vorkommnisse schönreden, meinen aber, dass "unser" Chemnitz eine differenziertere Aufmerksamkeit verdient, als sie ihm gegenwärtig zuteilwird.

Bernadette Malinowski ist Professorin für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der TU Chemnitz und war von 2013 bis 2016 Dekanin der Philosophischen Fakultät. Winfried Thielmann ist Professor für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der TU Chemnitz und war von 2014 bis 2016 Prodekan der Philosophischen Fakultät.

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