Es klingt, als sei in München ein gewaltiger Bilderschatz gefunden worden, den man als "Fall Cornelius Gurlitt" apostrophieren könnte. Doch aus dem dubiosen Bilderlager eines Kunsthändler-Erben wird erst ein Sensationsfund, wenn die Bilder einen Namen und eine Geschichte haben. Seit zwei Jahren forscht man an dem Konvolut. Aber wie klärt man die Herkunft von mehr als 1400 Bildern? Nicht von großformatigen Ölgemälden, sondern vor allem von Skizzenblättern, Aquarellen, Druckgrafiken? Wer waren die Künstler? Wer die Besitzer?
Bei Werken in hohen Auflagen ist es fast aussichtslos, die Eigentümer genau dieses einen Blattes zu ermitteln, wenn Sammler-Stempel oder sonstige Vermerke fehlen.
Bei Unikaten berühmter Künstler, deren Oeuvre in Werkverzeichnissen aufgeführt ist, wird man schneller fündig. So steht fest, dass die im Magazin Focus abgebildete Gouache von Franz Marc, die nicht mehr als 12x19cm misst, einst vom Städtischen Kunstmuseum Halle beim Berliner Kunsthändler J. B. Neumann erworben wurde. Das früh auf zeitgenössische Kunst spezialisierte Haller Museum hat die kleine Arbeit zusammen mit vielen anderen Werken im Jahr 1937 als "entartet" verloren. Die Beschlagnahmung der Nazis war gedeckt vom "Gesetz über Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst"; betroffen waren vor allem Werke in deutschen Museen: die von Expressionisten, Kubisten, Fauves. Die Meisterwerke überließ man ausgewählten Händlern zur Verwertung. Auf diese Weise verschaffte sich das Reich dringend benötigte Devisen.
"Berechtigte Kunstverwerter" waren Bernhard A. Böhmer, Karl Buchholz, der die Werke in New York vertrieb, Ferdinand Möller und eben Hildebrand Gurlitt, in dessen Besitz auch die in Halle beschlagnahmten Werke gelangten, wie das kleine Marc-Bild nahelegt. Einer von Gurlitts Verwerter-Verträgen, datiert auf den 22. Mai 1944, ist erhalten. Danach hat der Kunsthändler die Werke "aus dem Eigentum des Reichs" für 4000 Schweizer Franken gekauft. Rechtlich gehörten sie ihm, nachdem die Reichsbank den Eingang der Kaufsumme an das Propaganda-Ministerium gemeldet hatte.
Und es ist so gut wie ausgeschlossen, dass der vom Staat veräußerte Kunstbesitz je wieder an die Museen zurück gegeben wird. Nun können sich Gurlitts Erben auf dieses Recht berufen.
Aber unter den mühsam zu identifizierenden Werken in der geräumten Schwabinger Wohnung waren nicht nur solche, die einst als "Entartete Kunst" klassifiziert worden waren. Es ist möglich, dass man dort auch Nazi-Raubkunst gefunden hat. Dabei handelt es sich um Kunstschätze, die Menschen, die vom NS-Regime verfolgt wurden, hergaben, um dafür eine Ausreisebewilligung zu erhalten oder um die horrende Reichsfluchtsteuer zu begleichen. Manchmal wurden solche Werke auch im Rahmen gezielter Beschlagnahmungsaktionen in jüdischen Häusern entwendet. Oder von der Geheimen Staatspolizei aus den Wohnungen geschleppt, deren Bewohner in Vernichtungslager deportiert worden waren.
Nach den "Grundsätzen der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden" aus dem Jahr 1998, und nach der Erklärung der Bundesregierung zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz, sind öffentliche Sammlungen, Museen, Archive und Bibliotheken aufgefordert, ihre Erwerbungen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 sowie darüber hinaus auf Raubkunst hin zu überprüfen.
Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien stellt für die aufwendigen Recherchen inzwischen einen Millionen-Etat zur Verfügung. Die Arbeitsstelle für Provenienzforschung berät und koordiniert. Aber alle diese Anstrengungen, "gerechte und faire Lösungen" zu finden, beziehen sich nicht auf Privatbesitz oder den Kunsthandel: Privateigentümer sind sogar explizit ausgenommen. Die Eigentumsdelikte gelten als verjährt.
Sollten in München Raubkunst-Werke gefunden worden sein, ist es also möglich, dass die Familie Gurlitt diese Kunst "ersessen" hat.
Die Mitarbeiter des Auktionshauses Lempertz, denen Cornelius Gurlitt den "Löwenbändiger" von Max Beckmann präsentierte, sagten, sie hätten schon das Gefühl gehabt, dass sich der alte Herr der komplizierten Rechtslage durchaus bewusst gewesen sei. Sie veranlassten einen Vergleich mit den Erben des Kunsthändlers Flechtheim, die daraufhin einen Anteil vom Erlös erhielten.
Andere Fälle könnten noch komplizierter werden: beispielsweise die Klärung der Besitzverhältnisse eines Frauenbildnisses von Matisse, das die Provenienzforscherin und Kunsthistorikerin Meike Hoffmann als Werk aus dem Besitz des jüdischen Kunsthändlers Paul Rosenberg identifiziert haben will. Der musste im Jahr 1940 bei seiner Flucht über Bordeaux mehr als 160 Bilder in einem Tresor zurücklassen, den die Nazis später plünderten. So beschreibt es seine Enkelin, die Journalistin Anne Sinclair, in einer kürzlich erschienenen Biografie, deren Unterzeile "Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg" heißt. Sie kämpfe um die Rückgabe der gestohlenen Bilder, seitdem diese im Kunsthandel aufgetaucht seien.
Doch warum hat die Staatsanwaltschaft den Schatz im Zollfreilager nicht schon längst bekannt gemacht, wenn die Dinge so eindeutig liegen? Warum erfahren es die Nachkommen jüdischer Sammler und Händler, die bestohlenen Museen und die Kunsthistoriker erst jetzt? Und umgekehrt: Wird Cornelius Gurlitt möglicherweise zu Unrecht kriminalisiert?
Es wird darum gehen, viele hundert Geschichten zu erzählen - die allerdings als Rechtsfälle häufig nicht mehr so eindeutig formuliert werden können, wie es das moralische Empfinden gebieten würde. Dass Gurlitt womöglich Besitzer der als "entartet" eingezogenen Werke bleiben darf, ist solch ein Fall. In der Vergangenheit ist die Öffentlichkeit häufig von Erben erst dann eingeschaltet worden, wenn die Restitution aus juristischen Gründen ins Stocken geraten war. Es bleibt also abzuwarten, ob der Münchener Coup tatsächlich ein Fall tausendfacher später Wiedergutmachung wird.