Netzkolumne:Notiz an mich selbst

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"Liebes Zukunfts-Ich", so beginnen standardmäßig die Anreden auf der Website "Future Me". (Foto: Peter Endig/picture alliance/dpa/dpa-Zentral)

Statt guter Vorsätze fürs neue Jahr gibt es heute die Frage: Würde meinem künftigen Ich gefallen, wie ich mich jetzt in den sozialen Medien darstelle?

Von Michael Moorstedt

Die Zeit zwischen den Jahren stürzt manchen Social-Media-Nutzer in eine tiefe Krise. Die Bilder vom Baum sind gepostet, die von der Silvestertafel noch nicht gemacht. In der Zwischenzeit findet man sich frei von Performance-Zwang wieder: Unerhört, so eine Gegenwart ohne Ziele, die man dokumentieren könnte. Social-Media-Plattformen, egal ob Linkedin, Twitter, Instagram oder Facebook, falls das überhaupt noch jemand nutzt, tragen ihren Teil zum allumfassenden Burn-out bei. Stets arbeitet man da am Bild des eigenen Selbst, vergleicht sich, baut die eigene Marke aus und versucht zu optimieren.

Manche versuchen, die Lücke zwischen den Jahren zu füllen, indem sie den Speicher aufräumen. Das schafft Klarheit. Der habituelle Social-Media-Nutzer könnte außerdem eine Nachricht an sein zukünftiges Ich verfassen, anstatt an die Follower, um mehr Einsicht ins Selbst zu gewinnen. Eine Fingerübung, wie sie bei Schülern und Studenten beliebt ist, und jenen, die noch an eine bessere Zukunft glauben. Was will ich noch erreichen im kommenden Jahr, oder in zehn? Wer will ich sein? Was würde mich zufrieden stimmen? Wie geht es mir jetzt und will ich das ändern?

Auf der Website "Future Me" kann man solche Botschaften komfortabel einrichten, die einem nach einem selbst festgelegten Zeitraum - sechs Monate bis zehn Jahre - automatisch zugestellt werden. Mehr als 20 Millionen E-Mails wurden da schon in die Zukunft geschickt, der Dienst ist nicht gerade neu. Einige der Nachrichten kann man auch öffentlich nachlesen. Das widerspricht zwar ein wenig der eigentlichen Idee, aber interessant ist es doch, wie sich die Botschaften an künftige Ichs von den üblichen Einlassungen in den sozialen Netzwerken unterscheiden.

"Ich habe keine Ahnung, was Du mit Deinem Leben anstellen wirst"

Kaum etwas bis wenig findet sich da von der Selbstbeweihräucherung oder -entblößung, der man so häufig auf den Plattformen begegnet. Klar, auch hier gibt es Dramen, verlorene Liebschaften und gescheiterte Karrieren. Manche Verfasser gratulieren sich selbst zu zurückliegenden Erfolgen und richtigen Entscheidungen. Aber es bleibt vage. Wer auf Voyeurismus aus ist, ist hier fehl am Platz. Man muss schon seine Fantasie spielen lassen.

Das Datum, zu dem eine Mail entstanden ist, gibt vielleicht einen Anhaltspunkt: Versendet im März 2020, steht da etwa, also als die Corona-Pandemie gerade begann. Versendet im Dezember 2017 - welcher Wahnsinn zeichnete sich da gerade noch mal ab? "Ich habe keine Ahnung, was Du mit Deinem Leben anstellen wirst", schreibt eine 15-Jährige im Oktober 2014 an ihr Jetzt-Ich, "und diese Vorstellung ist sowohl fürchterlich als auch aufregend."

Klingt das naiv? Oder aufrichtig? "Future Me" und ähnliche Dienste könnten auch Anlass sein, darüber nachzudenken, wie man überhaupt im Netz schreibt und sich künftig dargestellt haben will. Dass wir unsere Leben in den sozialen Medien vor einem diffusen, semi-präsenten und doch stets verfügbaren Publikum ausspielen, hat ein ungnädiges Licht auf unser Innenleben geworfen und unsere öffentlichen Auftritte mit Zweifeln, Halbherzigkeit und Zögern belegt. Selbst das Mahnen und Warnen davor wird zur kalkulierten Pose. Je aggressiver man versucht, Aufrichtigkeit zu vermitteln, desto karikaturhafter scheint das eigene Verhalten zu werden.

Sollte es eine Unschuldsvermutung für Social Media geben? Einen Vertrauensvorschuss für jeden Nutzer, dass er die Plattformen in gutem Glauben nutzt und nicht versucht, das Publikum zu täuschen oder ihm etwas zu verkaufen? Aber wie wäre eine solche Arglosigkeit überhaupt möglich, wenn der intendierte Gebrauch der Plattformen doch darin besteht, für sich zu werben und selbstherrliche Inhalte zu posten, um die eigenen Metriken, Likes und Retweets, in die Höhe zu treiben? Wie lahm die Dinge auch sind, die man veröffentlicht - dass man lügt, um besser dazustehen, als man ist, nimmt trotzdem jeder im Publikum an.

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