Altmeister-Porträts in großen Ausstellungen:Den kenne ich genau

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Die schönsten, überraschendsten Ausstellungen der Saison zeigen die Porträts der alten Meister. Im zweiten Pandemiewinter sind uns ferne Katastrophen in den Gesichtern der Renaissance ganz nah.

Von Catrin Lorch

Die größte Überraschung des Kunstherbstes lässt sich schnell eingrenzen: ein enger, schmaler Saal - im Keller - der Londoner Wallace Collection, ein Dutzend Bilder nur, locker gehängt. Aber es ist diese allein dem niederländischen Maler Frans Hals gewidmete Schau, die in dieser Saison über alle anderen triumphiert. Nicht weil sie umfangreich ist, sensationell oder eine dieser gewaltigen Blockbuster, die ganze Epochen aufscheinen lassen. Sondern weil sie die schönste ist, die konzentrierteste unter denen, die sich dem Porträt widmen. Und das Porträt ist das Genre, das die Altmeister-Ausstellungen gerade dominiert, ob in Amsterdam, Stuttgart, Wien oder eben London.

Frans Hals war ein Meister darin, Menschen darzustellen. Das spürt auch, wer sich in den Windungen des als Goldenes Zeitalter der Malerei apostrophierten 17. Jahrhunderts nicht in allen Details auskennt. Dabei wurde der irgendwann zwischen 1580 und 1585 in Antwerpen geborene Hals lange von der Kunstgeschichte übersehen, schon weil seine Kunden nicht Könige oder Fürsten waren, sondern zu Geld gekommene Kaufleute, Bierbrauer, Tuchhändler, Bürgermeister oder die Vertreter der Seemacht in den reichen Kolonien. Die füllten ihre komfortablen Bürgerhäuser mit Gemälden, manche nannten Hunderte von Bildern ihr Eigen, und Historiker können vorrechnen, dass es damals fünfmal mehr Maler als Metzger oder Bäcker in ihrer Geburtsstadt gab.

Der selbstbewusste, zutiefst bürgerliche Geschmack der Niederländer - Hals arbeitete bis zu seinem Tod in Haarlem - lehnte seit der Reformation kirchliche Themen ab und wollte sich lieber seinen eigenen Lebensstil prächtig ausmalen lassen. In auftrumpfenden Gruppenportraits, wie Rembrandts ikonischer "Nachtwache", stillen, häuslichen Szenen, ausgefeilten Stillleben oder, allen voran, Porträts. Frans Hals wurde zu einem der gefragtesten Lieferanten, als er die Effekte seiner Genreszene, all die Zecher, Bauern oder Handwerker, in seine an Peter Paul Rubens und Jacob Jordaens geschulte Kunst einfließen ließ. Von dem Dutzend weißer, älterer Herren, deren Bildnisse für die Londoner Werkschau ausgewählt wurden, steht keiner herrschaftlich da. Frans Hals verzichtet auch auf alle ausgefeilte Metaphorik und auf schmückende, sprechende Details wie den Seidenglanz von Stoffen, die satte Färbung von Samt oder funkelnden Goldschmuck.

Alle Raffinesse liegt in der Unmittelbarkeit, der Zugewandtheit und Präsenz von Männern wie dem Stoffhändler Tieleman Roosterman oder Nicolaes Pietersz van Voorhout, einem rotbackigen Bierbrauer. Der Geschäftsmann und Diplomat Isaac Abrahamsz Massa scheint sich mitten im Gespräch auf seinem Stuhl umzudrehen, sein rechter Arm liegt quer auf der Lehne. Die entspannte Pose lässt den frisch gestärkten Spitzenbesatz an seinem Ärmel so uneitel verrutschen, als handele es sich um einen Arbeitskittel. Und sollte sich einer zur Sitzung im Atelier eine Goldkette umgelegt haben, ist die meist nur gerade so zu erahnen. Denn der Tonfall, in dem Frans Hals' Malerei von diesen Herren berichtet, ist ein gemütlicher, zwangloser, von der Art, in der man ausruft "den kenne ich genau". Und sogar der etwas bunter herausgeputzte "Lachende Kavalier", den Hals im Jahr 1626 vollendete, das Glanzstück der Wallace Collection, (man kennt ihn von Bierflaschen, Keksdosen und Zierstichkissen) besticht vor allem durch seine fast irre Freundlichkeit.

So eine Ausstellung wie "Frans Hals. The Male Portrait" ist sonst eher etwas für Kenner, ein Nischenthema. Warum wirkt sie in diesem Winter so überwältigend? Zum einen ist sie durch das Haus selbst hervorragend gerahmt. Die Wallace Collection residiert im polierten Prunk eines alten Herrenhauses in Marylebone, die oberen Etagen sind dicht behängt mit Meisterwerken: Seestücke, gewaltige Landschaften, Canalettos Venedig-Panoramen, Fragonards ikonische Schaukelnde, antike Szenen. Doch auch dort sind es die Portraits, die sich abheben, fast glaubt man, sie wenden sich dem Betrachter zu, Diego Velázquez "Dame mit dem Fächer" oder der zutiefst berührende "Titus", der Rembrandts Sohn verewigt. Dessen junges, schönes, noch weiches Gesicht wirkt fragend, als suche es noch seine Konturen, finde erst zu sich selbst.

In diesem Winter haben offensichtlich viele europäische Museen die Faszination antizipiert, die vom Porträt ausgeht. Sie finden sich in den Werkschauen zu Rembrandt und Rubens in Frankfurt und Stuttgart und in der Ausstellung zu Tizians Frauenbildern in Wien. Sogar der Rundgang zu "Dürers Reisen" in der Londoner National Gallery versammelt im zentralen Saal nicht etwa die Skizzen fremder Tiere oder Landschaften, sondern eine Suite von Porträts.

Am prominentesten ist die aktuelle Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum "Remember Me. Renaissance Portraits", die etwas prahlerisch darauf hinweisen kann, dass noch nie so viele Renaissance-Portraits überhaupt an einem Ort in den Niederlanden versammelt wurden - insgesamt sind es mehr als hundert. Die Auswahl selbst ist dennoch von großer Konzentration gezeichnet, sortiert die Motive nach Sujets wie Kinderbildern, bürgerlicher Porträtkunst und Bildern der Macht. Zum Rundgang gehören so singuläre Werke wie Hans Memlings "Portrait einer jungen Frau", Jan Mostaerts "Porträt eines afrikanischen Mannes" oder Tizians Bildnis des jungen Ranuccio Farnese. Der Katalog zitiert dazu Leon Battista Albertis Feststellung - immerhin aus dem Jahr 1435 - dass die "Malerei eine göttliche Macht" habe, weil sie nicht nur die "Abwesenden präsent machen kann, sondern auch die Toten den Lebenden gegenüber", sogar aus dem Abstand von Jahrhunderten. Und auch Dürer wies im Jahr 1512 auf die Kunst der Memoria hin, die Fähigkeit der Malerei, "die Erscheinung eines Menschen über seinen Tod hinaus zu verlängern".

Und während man noch überlegt, ob es jetzt die reflektierte und präzise Durcharbeitung der Malerei ist, die diese Bildnisse im Zeitalter von Selfies und Zoom-Konferenzen so kostbar und klug erscheinen lässt, spürt man, dass es diese Qualität der Memoria ist, die die gelungensten dieser Gemälde auszeichnet: In ihnen sind die Toten anwesend, wirken präsent und nah. Man blickt ihnen anders ins Gesicht. Weil da eine Verbindung ist, die man selten so gespürt hat - schienen sie doch weit entfernt; eigentümlich herausgeputzt, gefangen in einer fast abergläubischen Religiosität und starren Konventionen. Den Widrigkeiten von Natur und Politik ausgeliefert, schon weil parlamentarische Demokratie und Naturwissenschaften sich noch in Vorstufen befanden.

Doch jetzt, wo man sich an grauen Tagen schon fast jenseits der Segnungen der Neuzeit wähnt, kommen die zarten Renaissance-Gesichterchen einem unvermittelt entgegen, sogar die feisten Spitzbärtigen von Frans Hals sind nicht länger irgendwelche entfernten Ahnen unserer Gegenwart. Man kann sich einfühlen in die Verhältnisse, die sie vor die Staffelei gespült haben wie Treibholz in einem Meer aus Kriegen, Seuchen, Religions-Streit.

Frans Hals malte zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, die Bevölkerungszahlen hatten sich noch nicht von den ersten großen Pestwellen erholt, und in den Niederlanden einte die Bürger nicht nur ein gewisser Wohlstand, sondern auch das durchlebte Trauma einer Welt im Umbruch. Das macht das Gesicht kostbar, jedes einzelne. In diesem Dezember, kurz vor dem zweiten Jahreswechsel in dieser Pandemie, ist der Moment da, in dem sich jeder historische Abstand auflöst. Die fernen Katastrophen sind zurückgekehrt und in diesen Gesichtern, denen von der Malerei über ihren eigenen Tod hinaus Präsenz verliehen wurde, die so singulär, so verloren wirkten außerhalb der Kunst - in denen erkennen wir uns selbst.

Remember Me. Renaissance Portraits bis zum 16. Januar im Amsterdamer Rijksmuseum (Katalog: 27,50 Euro). Frans Hals: The Male Portrait bis 30. Januar in der Wallace Collection in London (Katalog: 20 Pfund).

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