Pop:Sei lieb zu jedem Alien

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Der musikalische Kosmos von „Big Thief" umfasst ätherische Leichtigkeit und bleischwere Wucht, melodische Griffigkeit und rhythmische Vertracktheit. (Foto: AP)

"U.F.O.F", das grandiose neue Album der US-Indiefolk-Band "Big Thief", fremdelt nicht mit Mysterien. Leichtigkeit und Wucht schließen hier einander überhaupt nicht aus.

Von Martin Pfnür

Als der Songwriter Jim Sullivan im März 1975 in Los Angeles in seinen VW-Käfer stieg und Richtung Nashville aufbrach, wollte er ein neues Leben beginnen. Zwei ebenso unbeachtete wie westcoast-süffige Folk-Alben, darunter das brillante Debüt "U.F.O.", hatte Sullivan bis dahin aufgenommen, in der Folk- und Country-Hochburg Nashville hoffte der 34-Jährige auf seinen Durchbruch. Allein, er kam niemals dort an. Man fand sein Auto nahe einer abgelegenen Ranch in New Mexico, von Sullivan selbst fehlt bis heute jede Spur.

Die Spekulationen um den später zumindest musikalisch Wiederentdeckten reichen von Mord und Suizid über gezieltes Untertauchen bis hin zur Entführung durch Außerirdische, deren Ankunft per Ufo in der Hitze einer Wüste Sullivan ja bereits auf seinem Debütalbum vorausgesehen hatte, wie fantasiebegabte Spätfans dann hervorhoben.

Wenn die Indiefolk-Band Big Thief nun Dekaden später ihr neues Album mit dem Titel "U.F.O.F" (4 AD) überschreibt, ist das wiederum ebenso eine leicht abgewandelte Hommage an den mysteriös Verschwundenen wie eine bündige Zusammenfassung ihres eigenen Schaffens. Für "friend" steht dieses zweite "F" hinter dem Ufo-Kürzel, und damit sinnbildlich für das Bestreben, über Songs "Freundschaft mit dem Unbekannten" zu schließen. Das sagt zumindest Sängerin Adrianne Lenker. Klingt erst mal etwas diffus, erschließt sich beim Hören allerdings relativ schnell.

Denn tatsächlich dürfte sich im längst popifiziert (u.a. Mumford & Sons) oder verfrickelt (u.a. Bon Iver) interpretierten Folk kaum eine aktuelle Band finden, die eine ähnlich hermetische Aura pflegt wie dieses wundersame Quartett aus New York.

Sei es in Lenkers kaum zu dechiffrierenden Abstraktions-Lyrics, sei es in klanglicher Hinsicht - fast immer ist da eine Doppelbödigkeit, etwas unbestimmt Dunkles, das in den entschlackt produzierten Songs wabert. Etwas, das unter der harmonischen Wärme von Lenkers honigsüßer, fast schon kindlicher Stimme und den fein verflochtenen Fingerpickings hindurchscheint. Oft nur als leise Ahnung, zuweilen aber auch durchaus konkret, wie etwa im "U.F.O.F"-Opener "Contact", dessen getragen kreiselnder, fast schon einlullender Gothic-Appeal nach knapp drei Minuten plötzlich von markerschütternden Schreien und einer dreckigen Starkstrom-Gitarre in Fetzen gerissen wird.

Überhaupt liegt eine seltene, aber ganz große Gabe der Band darin, dem steinalten Traditionsgenre der Folk-Musik immer wieder neue, überraschende Facetten abzugewinnen, ohne sich dabei auch nur im Ansatz zu verkünsteln.

Mit spielerischer Leichtigkeit verlegen Big Thief ihren Fokus von folkigen auf indie-rockige Aspekte, lassen klassische Scheunentanz-Rumpler wie das beschwingte "Cattails" kaum merklich in ein ambientes Geflecht feinster Piano-Tupfer und Synthie-Drones hinübergleiten oder Lenkers körperloses Hauchen im schwermetallischen "Jenni" mit dröhnenden Slow-Core-Riffs kontrastieren. Ätherische Leichtigkeit und bleischwere Wucht, melodische Griffigkeit und rhythmische Vertracktheit - all das schließt einander im Big-Thief-Kosmos nicht aus. Ebenso wenig wie Quantität und Qualität.

Drei ausgezeichnete Alben, "U.F.O.F" mit eingeschlossen, entstanden mittlerweile seit der Bandgründung im Jahr 2015. Präsentiert wurden sie nach und nach im Rahmen einer bis heute gut 700 Konzerte umfassenden Neverending-Tour, die Lenker immer noch nicht davon abhielt, im Herbst letzten Jahres auch noch zwischendurch ihr bis dato bestes Solo-Album "Abysskiss" zu veröffentlichen.

"Unsere jeweiligen Egos haben wir mittlerweile weitestgehend hinter uns gelassen", sagt sie heute und berichtet von einer Art sozialem Verschmelzungsprozess in der Gruppe, der über die Jahre auf der anhaltenden Reise durch die Zeitzonen innerhalb der Band stattgefunden habe. Das besagte zweite "F" - es steht also nicht nur für die Freundschaft mit dem Unbekannten

© SZ vom 08.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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