Pop:An den Wurzeln der Willenlosigkeit

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Seismograph für die Abgründe der Gegenwart: Thom Yorke. (Foto: Alex Lake)

Musik zur Zeit: Das grandiose neue Solo-Album "Anima" des "Radiohead"-Sängers Thom Yorke.

Von Martin Pfnür

"Haben Sie Probleme, sich an Ihre Träume zu erinnern?", fragten die Plakate, Handzettel und Projektionen, die Mitte Juni plötzlich in Großstädten auf der ganzen Welt auftauchten und eine bahnbrechende technologische Neuerung in Aussicht stellten. "Wir von Anima kennen dieses Gefühl nur zu gut: Sie befinden sich tief in einer surrealen Welt, in der Sie sein können, wer Sie wollen, und tun können, was Sie wollen. Und dann wachen Sie auf, und der Traum ist verblasst. Oder etwa nicht? Wir von Anima haben etwas gebaut, das wir 'Traum-Kamera' nennen. Rufen Sie einfach die unten stehende Nummer an und wir holen Ihre Träume zurück."

Was hier den Eindruck eines ebenso aufregend futuristischen wie fadenscheinigen Angebots erweckt, entpuppte sich spätestens nach einem Anruf unter der besagten Nummer als eine der hintersinnigsten Promo-Aktionen der jüngeren Vergangenheit. Man habe aufgrund behördlichen Drucks den Betrieb leider schon wieder einstellen müssen, verkündete eine automatische Ansage am Telefon. Dann hörte man mit "Not The News" einen unveröffentlichten Song Thom Yorkes, der zuletzt bereits auf einigen Solo-Konzerten des Radiohead-Sängers und Songwriters gespielt wurde.

Man kann die Aktion, die das Erscheinen von Yorkes drittem Album "Anima" (XL Recordings) vorbereitete, etwas prätentiös finden, und doch verweist Yorke mit diesem Fake-Tech-Späßchen, das auf den ersten Blick vor allem seine Faszination für Traumlandschaften und das menschliche Unterbewusstsein zeigt, auf diverse Abgründe der Gegenwart: Die rasante Digitalisierung als eine Verheißung, die womöglich doch eher zu Entfremdung und Überforderung führt (ein Radiohead-Lieblingsthema seit ihrem Meisterwerk "OK Computer" von 1997). Der stetig befeuerte Drang, unser Leben - und irgendwann unsere Träume - fotografisch festzuhalten und in den sozialen Medien zu präsentieren. Und schließlich der große Bluff, das leere Versprechen, das als kalkuliert eingesetztes politisches Mittel auch den Brexit-Wahnsinn in Yorkes Heimat auslöste.

Die Wurzeln der Willenlosigkeit führt dann Paul Thomas Andersons viertelstündiges Netflix-Musikvideo zum Album ins Dystopische. Gezeigt wird dort zu drei der neuen Songs, wie sich zwei Liebende, gespielt von Yorke und seiner Freundin Dajana Roncione, suchen und finden. Den Hintergrund bildet eine Orwell'sche Traumwelt, in der die ruckartig synchronen Bewegungen der seltsam sedierten Mitmenschen auf dem Weg zur Arbeit kollektive Fremdbestimmtheit und Gleichschaltung ausdrücken sollen.

Sowohl die ominöse Traum-Kamera als auch das Netflix-Video schaffen einen ziemlich konkreten Rahmen für das Album, dessen Texte eher unverständlich bleiben. Nur einmal, im dunklen "The Axe", beschwert er sich explizit bei der "goddamn machinery", warum sie nicht zu ihm spreche oder sich einfach selbst abschalte, er würde sonst irgendwann zur Axt greifen. Musikalisch findet er auf "Anima", anders als auf seinem letzten, arg unterkühlten Album "Tomorrow's Modern Boxes", zu einer wunderbar sphärischen Verbindung von filigran zirpenden elektronischen Klängen und allerlei Analogem. Melancholie und Rhythmus passen hier erstaunlich mühelos zusammen: "Twist" verwandelt sich als zweiteilige Suite etwa vom pumpenden Loop zu einem erhaben strahlenden Ambient-Track samt Piano und Kinderchor. "Dawn Chorus", mehr gesprochen als gesungen, kommt als zarte Synthie-Elegie im Wesentlichen mit einer einzigen Note aus. "Not The News" hat majestätische Streicherwände. Und im finalen "Runwayaway" demonstriert Yorke mit Wüsten-Blues-Gitarre und orientalischen Hackbrett-Klängen zu düster Elektronischem, dass auch Weltmusik in ihm steckt. Grandios!

© SZ vom 11.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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