Plattenkabinett:Im Puff wachsen Palmen

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"Jede Berührung elektrisiert dich/ Nur der elektrische Stuhl funktioniert nicht": Marteria. (Foto: Paul Ripke)

Marteria besummt die "Eintagsliebe", Thomas D muss auf die Ersatzbank und Max Herre musiziert für den Raclette-Abend. Neue Hiphop-Alben im "Plattenkabinett", der Musik-Kolumne von SZ.de.

Von Thierry Backes

Schluss mit den "Lila Wolken". Keiner hat mehr Bock auf Kiffen, Saufen, Feiern. Jeder ist jetzt Zahnarzt, keiner ist mehr Gangster. Alle spielen jetzt Golf, jeder fährt Passat. Keiner macht mehr Malle, alle fahren nach Schweden.

Schon lange hat niemand mehr das Lebensgefühl seiner Generation so akkurat in Worte verpackt wie Marteria, Jahrgang 1982. Der "Kids"-Ohrwurm sitzt verdammt tief, auch oder gerade weil der Refrain sich so offensichtlich bei M.I.A.s "Paper Planes" oder Jay Zs "Hard Knock Life" bedient. Darüber zu klagen, wäre müßig. Freuen wir uns lieber: Ende Januar erscheint Marterias neues Album "Zum Glück in die Zukunft II". Es enthält zwölf durch die Bank starke Songs, darunter auch diesen:

Nun ließe sich über einige Zeilen von "Bengalische Tiger" streiten, über explizite Gewalt zum Beispiel, Hooligans oder über Molotow-Cocktails werfende Kinder im Video. Aber ist es nicht bezeichnend, dass die Öffentlichkeit stillhielt, als Marteria den obigen Clip Anfang November ins Netz stellte? Er ist nun mal nicht der erste Hiphopper, der den Straßenkampf glorifiziert und die Evolution besingt, die mit einem R geschrieben wird. Belassen wir es dabei.

Wir widmen uns lieber der ungemeinen Dichte und Atmosphäre, die Marterias geniale Produzenten The Krauts hier geschaffen haben. Sie unterlegen seine Rhymes hier mal mit brachialem Bass, sonst aber gerne mit minimalistischen Beats oder funkigen Saxophon-Samples ("OMG!"). Die Harmonie zwischen Sound und Text stimmt in jedem einzelnen Song. Und im deutschen Hiphop schreibt derzeit keiner so sprachverliebte, doppeldeutige Zeilen wie dieser Marten Laciny - egal, ob die Tracks nun heiter sind oder düster. Mal besummt Marteria One-Night-Stands als "Eintagsliebe", mal stürzt er mit der Toten Hose Campino in einer Bar ab: "Jeder Schluck macht Glück, Glück, Glück". In "John Tra Volta" schließlich, in dem nicht mehr als ein Stromausfall thematisiert wird, reimt Marteria:

"Jede Berührung elektrisiert dich/ Nur der elektrische Stuhl funktioniert nicht."

Und weiter:

"Das Rotlicht geht an/ Im Puff wachsen Palmen/ Computer fallen aus/ Die Nato zerbricht/ Heut' gibt's Döner im Schwarzbrot für Dich."

Na dann, guten Appetit.

Wenn dieses Album eine Mahlzeit wäre, dann wäre es... bestimmt kein Döner. Eher ein saftiges Entrecôte mit Sauce béarnaise, begleitet von einem edlen Rotwein aus dem Médoc.

Wenn das Album ein Fahrzeug wäre, dann wäre es... Smart.

Wenn das Album eine Reise wäre, dann führte sie... von Rostock nach Weimar.

Marteria - "Zum Glück in die Zukunft II" erscheint am 31. Januar.

Wenn Sie sich auch nur ein wenig für deutschen Hiphop interessieren, dürften Sie gelesen, gehört oder gesehen haben, was jetzt folgt. Thomas D hat kurz vor Weihnachten ein neues Album veröffentlicht und das so clever kommuniziert, dass allerorten im Netz die Frage debattiert wurde, wer denn nun dieser Tommy Blank sei. Auch wegen Videos wie diesem:

Tommy Blank hat nie existiert. Und er existiert doch: "Aufstieg und Fall des Tommy Blank" ist Thomas Ds Ziggy-Stardust-Album - ein Konzeptalbum, indem er über (s)eine Karriere in der Musikindustrie sinniert. Was auf den ersten Blick nach einem interessanten Experiment klingt, ist in Wirklichkeit ein selbstverliebter Ego-Trip. Thomas D und seine Homies - tatsächlich kommen nur zwei kurze Stücke ohne Features aus - erzählen die tragische Geschichte eines unglaublich talentierten, unglaublich attraktiven, unglaublich smarten und unglaublich bescheidenen Hiphoppers, der den Massenerfolg so nie gewollt hat. Blank war, das lernen wir am Ende von Gastrapper Moses Pelham, "wie Biggie und 2Pac, doch von seinem Wesen her eher Michael Jackson". Da lobt man sich fast schon den Diss von Afrob in "Tommy is back":

Tommy ist back/ Tommy ist whack/ Tommy ist Fake und der Albtraum des Raps/ Ich kenne Tommy von 'ner ganz anderen Seite/ Intrigant, arrogant und findet jeden Scheiße/ Weltmeister im Austeilen, Kreisliga im Einstecken.

Ironie? Fehlanzeige. Warum so eine Alter-Ego-Nummer? Wir wissen es nicht. Nicht auf die Texte zu hören, hilft leider auch nicht: Geht es um den Flow, war Thomas D schon immer eher der Ergänzungsspieler als Leistungsträger, das fällt insbesondere in den langen Strophen auf, etwa bei "Brüder". Als wäre das nicht alles schon schlimm genug, kommt irgendwann Herbert Grönemeyer um die Ecke - mit einer Seefahrermetapher. Unfassbar.

Wenn dieses Album eine Mahlzeit wäre, dann wäre es... Linse mit Spätzle und Saitenwürschtle.

Wenn das Album ein Fahrzeug wäre, dann wäre es... ein planlos in der Landschaft abgestellter amerikanischer Schulbus.

Wenn das Album eine Reise wäre, dann führte sie... von Stuttgart in die Hölle.

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Wenn die Raketen verschossen sind, der Rauch sich verflüchtigt und die Kehrmaschinen ausrücken, dann kommt die Zeit für die Hits aus der Jugend. Silvester, ein gesettelter Haushalt in München-Haidhausen, ziemlich spät: H.P. Baxxter will wissen, was der Fisch kostet, "Mr. Vain" tönt aus den Boxen und "Coco Jambo". Alle singen, spätestens wenn es heißt: "Es ist 1996, meine Freundin ist weg und bräunt sich in der Südsee." "Jein" muss sein, "Sie ist weg" natürlich auch, und irgendwann folgt der Freundeskreis mit "A-N-N-A". Garantiert.

Ein klassischer Mixtape-Song, nicht nur für alle Annas dieser Welt. Max Herre hat ihn nun ein weiteres Mal eingespielt, er ist nach den Fantastischen Vier und Sido der dritte deutsche Hiphop-Künstler, der ein "MTV Unplugged"-Album aufgenommen hat. Stolze 42 Tracks zwischen Rap, Soul und Funk gibt es in der Limited Edition zu hören, einige ("1ste Liebe", "Tabula Rasa Pt. 1") hatte man fast schon vergessen. Umso schöner ist es, sie nun mit üppiger Instrumentierung wiederzuentdecken. Anders als die Scorpions macht Herre etwas aus den Möglichkeiten, die der Musiksender ihm bietet. Er tritt den Beweis für die These an, die er in "Rap Ist" selbst formuliert: "Du bist nie ein guter Rapper, wenn du den Soul nicht liebst."

Die "Kahedi Radio Show" groovt. Das fängt bei den Interludes von "Yo! MTV Raps"-Moderator Fab 5 Freddy an und hört nicht bei den durchgängig smarten Arrangements auf. Das ganze Album ist konzipiert worden als eine gigantische Jam-Session mit einem gut zwei Dutzend Musiker umfassenden Orchester, und genauso hört es sich auch an. Herre hat seine Frau Joy Denalane eingeladen und so ungefähr jeden Musiker, mit dem er einmal auf der Bühne stand: Samy Deluxe, Gentleman, Patrice, Afrob, Megaloh, Sékou, Sophie Hunger oder Philipp Poisel. Und für die ganz großen Gefühle hat Herre den fantastischen Soulsänger Gregory Porter ("Vida", "So wundervoll") engagiert. Das alles eignet sich hervorragend für entspannte Lesestunden auf dem heimischen Sofa. Oder als Nebenbeimusik, etwa zum Raclette an Silvester.

Wenn dieses Album eine Mahlzeit wäre, dann wäre es... eine mit schmelzendem Pecorino überzogene Kartoffel.

Wenn das Album ein Fahrzeug wäre, dann wäre es... ein altes Mercedes-Taxi, Typ W201.

Wenn das Album eine Reise wäre, dann führte sie... von Stuttgart nach Detroit (über New York).

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