Philosophie:Ein Ideal als Mängelwesen

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Martha Nussbaum revidiert und ergänzt den Kosmopolitismus.

Von Gustav Seibt

Die gegenwärtige Krise lässt sich mühelos als Anwendungsfall der grundlegenden Probleme des Kosmopolitismus beschreiben. Das neue Virus bedroht alle Menschen gleichermaßen, es trifft uns als Naturwesen, als Gattung. So wird es zu einem Marker fundamentaler Gleichheit. Darüber hinaus stellt es uns als Individuen in Frage, im Ansteckungsgeschehen sind die einzelnen Menschen Glieder einer Kette oder Bestandteile eines Kollektivkörpers, sonst wäre die vorübergehende Pflicht zur räumlichen Distanzierung unnötig.

Zugleich trifft der neue Erreger uns je nach unserem Ort auf diesem Erdball höchst unterschiedlich. Wohlstand, Gesundheitswesen, gelenkte oder freie Öffentlichkeit, all das hat einen Einfluss, der über Reaktionsgeschwindigkeiten, Gegenmaßnahmen und Sterberaten entscheidet. Die egalitäre Bedrohung wird zum Gradmesser für Ungleichheit. An dieser im Weltmaßstab verlaufenden Linie zwischen natürlicher Gleichheit und gesellschaftlich-lokaler Ungleichheit setzt Martha Nussbaums vor einem Jahr erschienene "Revision" des kosmopolitischen Ideals an. Der Originaltitel spricht von einem "flawed ideal", einem mangelhaften Ideal.

Nussbaum bietet keine umfassende Übersicht zur Ideengeschichte des Kosmopolitismus. Die wichtige deutsche Tradition weltbürgerlichen Denkens mit Kant, Herder, Goethe oder Humboldt kommt gar nicht vor. Nussbaum beginnt in der Antike. Der erste, der sich als Weltallbürger, als Kosmopolites, bezeichnet haben soll, war der kynische, wie ein Hund in einer Tonne lebende Philosoph und Stadtstreicher Diogenes. Er blieb programmatisch bedürfnislos, vom Eroberer Alexander begehrte er nur, ihm aus der Sonne zu gehen, ihm also einen winzigen Teil natürlicher Wärme zu lassen: der Mensch ohne soziale Bindungen, Nationalität, Religion, mit und von der Natur lebend. Der Mensch an sich.

Hier sieht Nussbaum den Geburtsfehler allen bisherigen kosmopolitischen Denkens. Es konzipiert den Menschen naturhaft bedürfnisarm, ausgestattet zwar mit einer allen gemeinsamen Menschenwürde und grundlegenden, aber eher abstrakten Rechten auf Gleichheit und Gerechtigkeit, jedoch ohne Anspruch auf materielle Hilfen. Die kynische und später stoische Tradition habe einer "Zweiteilung" der Rechte in bürgerlich-politische Menschenrechte einerseits und wirtschaftlich-soziale Ansprüche andererseits vorgearbeitet.

Mit Freude zitiert die Philosophin Cicero, der Gladiatorenspiele mit Elefanten vehement ablehnte

Diese Zweiteilung untersucht Nussbaum schon in der Antike: Während der von ihr hochgeschätzte Cicero menschliche Zugehörigkeit in konzentrischen Kreisen konzipiert - von der Familie über Freundschaft und Bürgerschaft zur Menschheit - verbleibt der Stoiker Marc Aurel in einer abstrakten Menschenliebe, die sich vom Verlust geliebter einzelner Mitmenschen nicht aus der Ruhe bringen lassen will. Im imperialen Raum des Römischen Reiches bedarf es zudem kaum eines übergreifenden Völkerrechts, sondern nur kriegsrechtlicher Mäßigungen.

Das ändert sich in der europäischen Neuzeit mit ihrem Staatenpluralismus und der Entwicklung des Souveränitätsbegriffs. Hugo Grotius entwarf im 17. Jahrhundert ein verbindliches, überkonfessionelles Völkerrecht, das keinen Gott brauchte, weil es auf die gemeinsame Vernunft aller Menschen gegründet sein sollte. Dazu entwickelte Grotius die Theorie vom "Gemeinbesitz der Menschen an der Erde", gegen spanische und englische Ansprüche auf exklusive Seeherrschaft. Hier erkennt Nussbaum den ersten Ansatz zu einem Kosmopolitismus, der auch materielle Verteilungsgerechtigkeit denken kann.

Die ökonomischen Grundlagen menschlichen Daseins und Handelns zeigte im 18. Jahrhundert Adam Smith auf und holte damit den Begriff des Menschen aus der Abstraktion rein formaler Gleichheit heraus. Damit wird die Bahn frei für das, was Nussbaum mit Amartya Sen den "Fähigkeitenansatz" nennt, den meist als "Befähigungsansatz" übersetzten "capability approach". In einem Katalog von zehn menschlichen "Fähigkeiten" - man sollte sie vielleicht besser als "Möglichkeiten" bezeichnen - lässt Nussbaum die fatale Zweiteilung politischer und sozialer Menschenrechte hinter sich. Sie umschreiben ein breites Spektrum, das von körperlicher Unversehrtheit über Erziehung, Liebe, Beziehungen, Freiheit von Furcht und Demütigung, dem Leben mit der Natur, dem Spiel und den Künsten bis zu politischer Teilhabe und sogar Eigentum reichen.

All dies soll allen Menschen zustehen und zugänglich sein. Dabei möchte Nussbaum das Kriterium des Vernunftgebrauchs nicht exklusiv verstanden wissen, denn es könnte Behinderte benachteiligen. Am Ende erweitert sie einige dieser Rechte sogar ins "Vertikale" auf alle empfindungsfähigen Wesen: Auch Tiere haben Rechte. Mit Freude zitiert die Philosophin ihren Liebling Cicero, der Gladiatorenspiele mit Elefanten vehement ablehnte.

Braucht ein so umfassender Rechtekatalog nicht eine tief eingreifende internationale Ordnung, nicht nur ein wirksames Völkerrecht, sondern Entwicklungshilfen, Transferleistungen, allgemeine Freizügigkeit? Im vorletzten Kapitel, noch vor ihrem Fähigkeiten- oder Möglichkeitenkatalog, erweist Nussbaum sich als moderate liberale Realistin. Kosmopolitische Ideale müssen lokal und variabel umgesetzt werden; Politik braucht konkrete Teilhabe, also demokratische Kontrolle, daher kann sie auf Verfassungs- und Nationalstaaten nicht verzichten. Die Möglichkeit eines Weltstaats erörtert Nussbaum nicht. Patriotismus ist ihr - ganz im Sinne Ciceros - wünschenswert, sofern er die eigene Nation mit universalen Werten verbindet, wie es für die Vereinigten Staaten lange galt.

Paternalistische Entwicklungshilfe, punktuelle, systemwidrige Eingriffe von außen hält Nussbaum für riskant. Internationale Organisationen, beispielsweise der Frauenbewegung, dienen der Formulierung von Idealen, die konkret unterschiedlich verwirklicht werden sollten. Migration und Asylrechte will Nussbaum in einer Weise geregelt sehen, die mit den aktuellen europäischen Normen fast deckungsgleich klingt, wenn diese nur realisiert würden.

Nussbaums Buch ist nicht immer leicht zu lesen, auch wirkt es oft ahistorisch. Cicero und die Stoiker, Grotius und Adam Smith behandelt sie wie Referate aus einem Nachbardepartment: teils brauchbar, teils ergänzungsbedürftig. Der Prozess der Globalisierung ist ihr kaum einige Bemerkungen wert. Auch dass es seit der Antike immer wieder kosmopolitische Schichten gab - Gelehrte, Geistliche, Adelige, Diplomaten und Kaufleute - und dass die globalisierte Weltökonomie heute wieder so einen umstrittenen und angefeindeten "Stamm" hervorgebracht hat, interessiert die Philosophin nicht.

Nussbaums Skepsis gegen globale Lösungen, ihre Verteidigung der Staatenvielfalt und kultureller Besonderheiten hätte bei den deutschen Denkern, vor allem bei Herder und Kant, starke Argumente finden können. Auch überrascht, dass sie über Hannah Arendts Kritik an Menschenrechten, die nicht auch Bürgerrechte sind, kein Wort verliert. Eine umfassende Darstellung der Geschichte kosmopolitischen Denkens scheint wünschenswerter denn je.

Martha Nussbaum: Kosmopolitismus. Revision eines Ideals. Aus dem Englischen von Manfred Weltecke. Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Theiss Verlag, Darmstadt 2020. 352 Seiten, 30 Euro.

© SZ vom 04.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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