Peter Fabjans Buch "Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard":"Jetzt brauche ich dich!"

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Die Unglücksfamilie vor der Krucka, von links nach rechts: Mágda Fábián, Peter Fabjan, Grete und Viktor Hufnagl, Thomas Bernhard. (Foto: © Fotoarchiv der Thomas Bernhard Nachlassverwaltung GmbH)

Peter Fabjan war nicht nur Thomas Bernhards Bruder, sondern auch dessen Leibarzt. Jetzt hat er ein Buch über sein Leben an der Seite des Dichters geschrieben, der Leute wegschicken konnte wie kein Zweiter.

Von Willi Winkler

Thomas Bernhard geht es schlecht, er liegt im Bett; sein Nachbar Ignaz Hennetmair muss unbedingt sofort Dr. Peter Fabjan anrufen, Bernhards Bruder. Nach Dienstschluss im Krankenhaus in Wels bei den Barmherzigen Schwestern soll er sofort zur Visite kommen. Gut dreißig Minuten mit dem Auto sind es von Wels nach Ohlsdorf, wo Bernhard lebt und kränkelt.

Doch Fabjan lässt sich Zeit, er geht mit einem Freund ins Theater und erscheint bei seinem Bruder erst, als der sich bereits mit einer Schlaftablette hingelegt hat. Bernhard ist außer sich, der Freund sei ihm also wichtiger als sein eigener Bruder, und schon zückt er das Flammenschwert, Fabjan wird verstoßen: "Ich will überhaupt nichts mehr von dir, ich will dich nicht mehr sehen ...".

Nicht der vom Hof gejagte Fabjan erzählt diese Geschichte, sie steht im versiegelten Tagebuch von 1972, das Karl Ignaz Hennetmair zur Freude aller Bernhard-Enthusiasten vor zwanzig Jahren veröffentlicht hat. Es zeigt den Dichter, im Jahr eins nach Hegel darf man es wieder sagen, in der Perspektive des Kammerdieners, in der ihm "jener nicht als Held, sondern als Essender, Trinkender, sich Kleidender, überhaupt in der Einzelnheit des Bedürfnisses und der Vorstellung" erscheint.

Am liebsten verkrachte Bernhard sich mit jenen, denen er Dankbarkeit schuldete

Außerhalb des heiligen Raums seiner Bücher und Stücke verbrachte der Einsamkeitsapostel Bernhard offenbar viel Zeit mit seinem klatschsüchtigen Nachbarn vor dem Fernseher. Er rast im Auto durch die Gegend, schneidet sich mit der Motorsäge ins Bein, kauft und renoviert Häuser und benimmt sich in kurzer Hose und Losenjacke so unliterarisch wie nur möglich. Seinem Bruder, der "für meine Arbeiten ja kein Verständnis gezeigt" hat, bleibt in diesem Leben zwischen Premierenskandal und Frittatensuppe nur eine Chargenrolle.

Thomas Bernhard ist 1989 gestorben, sein heute 82-jähriger Bruder, als Arzt längst pensioniert, verwaltet den Nachlass. Fabjan könnte das letzte Wort haben, wenn nicht von all den Verlegern, Kapellmeistern, Nationalratspräsidentenwitwen, den Nachbarn und vor allem von Bernhard selber bereits so gut wie alles über Bernhard gesagt worden wäre. Fabjan versucht es trotzdem und besteht auf seinem eigenen "Leben an der Seite von Thomas Bernhard".

Der hat sich irgendwann mit fast allen verkracht, am liebsten mit den Männern und Frauen, denen er Dankbarkeit schuldete, weil sie ihm mit Zuneigung und Förderung oder wie sein Bruder als Arzt beistanden. Henntmair zufolge hatte er es gerade bei Peter Fabjan auf eine nachhaltige Kränkung abgesehen: "Nachdem ich so grausam und scheußlich gegen ihn war, wie ich es noch mit keinem Menschen gemacht habe, kann er mir nicht mehr unter die Augen treten."

Als Psychologe ist der Arzt Peter Fabjan überfordert

Tritt er aber. Es dauerte Monate, bis sich die Halbgeschwister wieder versöhnten, aber der Jüngere war immer zur Stelle, wenn sein Bruder ihn brauchte, und er brauchte ihn immer mehr, je weiter seine zehrende Krankheit fortschritt. Gern glaubt man ihm, dass es ein "Leben mit einem Phantom" war, dass er einen "Dämon an meiner Seite" spürte, aber Bernhards Art zu schreiben, zu denken, zu leben bleibt ihm trotz der familiären Nähe völlig fremd.

Als "Co-Pilot des Lebens" bezeichnet er ihn und steigert sich in dieses gewagte Bild hinein: "Er hat eines Tages die Tür zur Kanzel zugemacht, sich von der Gesellschaft abgeschlossen und sich entschieden, diese ihm in ihrer Normalität fremde Welt nicht ohne Eklat zu verlassen." Immerhin war Bernhards "Lösung" nicht das "kerosingefüllte Flugzeug ohne Rücksicht auf die ahnungslose, unschuldige Umgebung", sondern "Denken und Komponieren mittels Sprache" - man merkt, wie sehr bei Suhrkamp Bernhards langjähriger Lektor Raimund Fellinger fehlt.

Als Arzt spricht Fabjan geläufig von Gebärmutterkarzinom, Sarkoidose, Dekubitus und dilatativer Kardiomyopathie (die freundlicherweise als Herzerweiterung durch Erkrankung des Herzmuskels übersetzt wird), doch als Psychologe ist er überfordert. Demütig erklärt er die "fühlbare Verachtung" seines Bruders damit, dass Bernhard sein "eigenes Leben" spüren wollte, "das in ihm wohl in frühester Kindheit erstorben war".

Bernhard und Fabjan wurden in einer Unglücksfamilie groß

"Wohl" ist gut: Er war ins Unglück geboren. Unehelich kam Bernhard 1931 in Holland zur Welt, seine Mutter Herta musste ihn sofort weggeben, um mit ihrem kleinen Einkommen ihren Vater zu unterstützen, der als erfolgloser Schriftsteller die ganze Familie tyrannisierte. "Herta weiß, was ich an jedem Ersten erwarte, ohne Ausnahme. Ich bin entschlossen, wenn ich innerhalb eines Jahres keine Änderung erzwingen kann, mein Leben wegzuwerfen", schreibt er 1927 an seine Frau.

Rettung bringt erst der Friseurlehrling Emil Fabjan, der die uneheliche Mutter heiratet, mit ihr zwei weitere Kinder bekommt und zum alleinigen Ernährer der siebenköpfigen Großfamilie wird. Als Emil Fabjan 1945 aus dem Krieg zurückkommt, läuft Thomas Bernhard dem Stiefvater begeistert entgegen. Der jedoch geht an ihm vorbei und hebt Peter hoch in die Luft. "So was merkt man sich, das bringt man nicht mehr aus sich heraus", sagt Bernhard bei Hennetmair. In seinem "Rapport" relativiert Fabjan diese Urszene: "Mich, den Siebenjährigen, hat der stachelige Vollbart des mir inzwischen fremd gewordenen Mannes irritiert."

Eine Unglücksfamilie, der kein noch so enger Stuhlkreis aus diesem Elend hätte heraushelfen können. In einem Brief an den "lieben guten Papa" hat Herta Bernhard, später verehelichte Fabian, die Familie unter der großväterlichen Fuchtel perfekt charakterisiert: "Mir kam es eben so vor als wären wir zusammen ein einziger Mensch der leben oder zugrunde gehen muss."

"Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt."

Der Arzt Fabjan diagnostiziert bei seiner Mutter posthum eine "medikamentös verursachte paranoide Veränderung". Sie glaubt, vergiftet zu werden, und erkennt ihre eigenen Kinder nicht mehr. Ein Aufsatz, in dem er die häusliche Situation nach dem Tod der Mutter schildert, wird vom Lehrer vor der Klasse gelobt. "Thomas sieht ihn als nicht zulässig an." Natürlich nicht, denn es ist seine höchstpersönliche Passionsgeschichte, und er allein wird sie schreiben, gegen die eigene Familie, die große Weltverneinungstheologie in seinen großen apostatischen Tiraden, schließlich in den sechs autobiografischen Büchern.

Die Geistesriesen, die Selbstmörder, die Kegelerbauer, die ganzen Ignoranten und Wahnsinnigen, das ist alles Johannes Freumbichler, in dem sich wieder der Enkel spiegelt, der 1968 seine Dankesrede für den Österreichischen Staatspreis mit dem Satz beginnt: "Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt."

Peter Fabjan verkraftet auch die übelsten Beschimpfungen, selbst wenn sie sich gegen Kirche und Staat richten: "Als großer missverstandener Liebender ist er Zeuge der Gesellschaft seiner Zeit, die er bloßstellt." Bei aller Sänftigung trägt er aber mit der Einschränkung "so wurde es in der Familie erzählt" eine Geschichte nach, die sich ohne Weiteres in die Unglücks- und Sterbensgeschichten seines Bruders einreihen ließe.

Das gemeinsame Leben wurde kein Zugrundegehen

Die dreijährige Herta Bernhard, ihrer beider Mutter, habe so lange Holzscheite auf ein neugeborenes schreiendes Geschwisterkind gehäuft, bis es zu schreien aufhörte und tot war. Die Eltern plagte die Sorge, dass der Hausarzt sie anzeigen würde, aber "die Geburt wurde nicht amtlich".

Peter Fabjan: Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard. Ein Rapport. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 192 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Von seinem Bruder sei er "liebevoll drangsaliert" worden, schreibt Fabjan zum Schluss, was in Umkehrung von Bernhards Übertreibungskunst eine welteinmalige Untertreibung ist. Bei Bedarf war der Bruder schon immer zu Hilfsdiensten herangezogen worden: Der famulierende Erzähler in "Frost" bezieht sein medizinisches Wissen vom Medizinstudenten Fabjan, der aus der Pathologie auch die Terminologie für das Stück "Der Ignorant und der Wahnsinnige" liefert. 1967 wird bei Bernhard Morbus Boeck diagnostiziert; er weiß, dass er nicht lange zu leben hat. 1984 stirbt sein "Lebensmensch", seine Förderin Hedwig Stavianicek, das Kümmern bleibt Fabjan überlassen: "Jetzt brauche ich dich!"

Mit dieser Drohung wird er endgültig zum Leibarzt, unentbehrlich zuletzt. Bernhard kauft unterhalb von Ohlsdorf in Gmunden eine Wohnung, die der seines Bruders direkt gegenüberliegt. Allen Ernstes wirft er sich heute vor, wieder in der Nachfolge des Terrorregimes, das der Großvater Freumbichler übte, dass er nicht die Kraft gehabt habe, "diese Situation anders als mit hinhaltender Gefolgschaft zu meistern". Doch ist Peter Fabjan damit davongekommen, das gemeinsame Leben wurde kein gemeinsames Zugrundegehen.

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