Perspektive in der Malerei:Ein uraltes Spiel

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Nur gemalt sind Tür und Frau auf diesem Fresko aus der Casa di Meleagro in Pompeji. (Foto: Museo Archeologico Nazionale di Napoli)

Schon in der Steinzeit experimentierten Maler mit der Darstellung von Raum und Räumlichkeit. Die Freude daran ist geblieben.

Von Harald Eggebrecht

Wer jemals in eine der niedrigen prähistorischen Höhlen in der Nähe von Les Eyzies-de-Tayac-Sireuil im Tal der Dordogne gekrochen ist, um dort Ritzzeichnungen aus der Jungsteinzeit zu bestaunen, wird zuerst nur ein Gewirr von Linien an den Wänden vorfinden. Mühsam versucht man, sich zu orientieren, und beginnt, den felsigen Untergrund genauer zu betrachten.

So entdeckt man, dass jene hervortretende Gesteinsbeule von einer Ritzlinie umzogen ist - und plötzlich sieht man den Bären!

Von da an kommt man aus dem Finden nicht mehr heraus, das anfängliche Gewirr entfaltet sich immer mehr zu einer ganzen Menagerie, welche die damaligen Menschen auf dem für sie so viele Gestalten bergenden felsigen Untergrund mit ihren Umritzungen fixierten.

Bis heute sehen wir in Wolken,Bäumen und Bergen Gesichter oder Figuren

Besucht man die Nachbildung der berühmten Höhle von Lascaux, so scheinen die furios gemalten Tierscharen über die Felswände zu galoppieren, Wände, die in nahezu wellenartiger Bewegung vor- und zurücktreten und so die Darstellungen von Rentieren, Büffeln und Pferden noch stärker dynamisieren.

Ob Wolken, verwachsene Bäume, bizarre Felsen oder auffällig geformte Berge - bis heute haben wir nicht aufgehört, Gesichter und Figuren, gespenstische Visagen oder dicknasige Trolle in sie hineinzusehen, dorthin, wo doch in Wirklichkeit keine sind. Auch wenn keiner an den Mann im Mond glaubt, beim Blick hinauf braucht es nicht viel, um in den dunklen Mondflecken eben mehr zu sehen als nur diese. Es geschieht da eine magische Belebung der Natur, ob wir nun Menschen oder andere Wesen in der uns nicht geheuren Natur wahrnehmen wollen, es ist ein urmenschliches Phänomen.

Feen, Zwerge, Riesen, böse Geister, Ungeheuer - nicht nur Kinder sind bereit, dergleichen in Dämmerung und Mondnacht als sichtbar zu erwarten. Dazu hält die Natur tatsächlich optische Täuschungen parat, man denke nur an die in keinem Abenteuerroman fehlende Fata Morgana oder an vermeintliche Geisterschiffe auf dem Meer. Beides entsteht durch Luftspiegelungen und hat bis heute nichts von seiner zauberischen Wirkung verloren, auch wenn alles naturwissenschaftlich erklärt werden kann.

Von Beginn an haben also Künstler damit experimentiert, wie Raum und Räumlichkeit auf der Fläche suggeriert und dargestellt werden können. Im alten Ägypten etwa gibt es die Scheintüren, die bis ins Detail ausgearbeitet sind. Erkennen und Illusion fallen da gewissermaßen zusammen.

In der Renaissance wurde die Zentralperspektive in alle Richtungen ausgereizt in immer neuen und tieferen Raumfluchten, sodass manches Porträtgemälde sich hinter der Person im Vordergrund zu einer ganzen Welt dahinter ausdehnt. Doch hatten schon die Römer das illusionistische Spiel mit Perspektiven gepflegt. Manche der in Pompeji gefundenen Mosaiken sind dermaßen plastisch in ihrer Wirkung, dass man meint, die Fische, Krebse und Muscheln von der Wand klauben zu können. Auch halb geöffnete Scheintüren, die den Blick auf Personen freigeben, die doch genauso gemalt sind wie die angebliche Tür, wirken effektvoll wie am ersten Tag.

In barocken Festsälen und Rokokokirchen wirkten Maler und Stuckateure zusammen, um beispielsweise einen gemalten Putto durch ein plastisch ausgebildetes Bein tatsächlich anfassbar zu machen. Es ist, als ob der gemalte Engel aus dem Gemälde in den wirklichen Raum gelangen, oder umgekehrt in die Weite des Gemäldes schlüpfen könnte. So erhöht diese Kombination aus Plastik und Malerei die Lebendigkeit des Dargestellten.

Nichts ist beliebter bei Schlossführungen als der Hinweis an die Betrachter, sie könnten sich den Augen eines Gottes oder Fürsten im Deckengemälde nicht entziehen, gleich, ob sie sich nach links oder rechts bewegten. Auch hier geht es um Verlebendigung und Macht gemalter Illusionen. Die Meister solcher Kunststücke waren Virtuosen in der Beherrschung von perspektivischen Verkürzungen und Längungen. Ganze Festarchitekturen ragen in die Unendlichkeit der gemalten Himmel und geben den Gewölben eine räumliche Tiefe, die mit den tatsächlichen architektonischen Gegebenheiten nichts zu tun haben.

Im Manierismus wurden extreme Blickwinkel und optische Verwirrungen besonders geschätzt. Man denke nur an das berühmte Selbstporträt des 21-jährigen Parmigianino von 1523 /24. Es zeigt den Maler vor einem konvexen Spiegel, seine rechte Hand dominiert den Vordergrund, der Raum erscheint nur verzerrt, allein das ruhige Antlitz des Malers bleibt unberührt von den Bizarrerien des Spiegels. Dass Parmigianino das Bild auf ein gewölbtes Pappelholz malte, erhöht die nahezu surrealistische Wirkung.

Kaiser Rudolf II., der dieses Bild in seiner Schatzkammer hatte, schwärmte besonders für Anthropomorphien, also Landschaften und Stillleben, die sich bei genauerer Betrachtung als Menschengesichter entpuppen. Die Jahreszeitenserie des Malers Arcimboldo bietet solche Gesichter mal zusammengesetzt aus den Früchten des Herbstes, mal aus den Blumen des Frühlings und so fort.

Dass das Experimentieren mit der Wahrnehmung bis heute nicht abgenommen hat, liegt auf der Hand. Mit der Entwicklung von Fotografie und Film wurde der Wirklichkeitsanspruch des sichtbar Gemachten massiv. Doch die frühen Daguerreotypien tragen wegen der langen Belichtungszeit unsichtbar Anwesendes in sich.

So kann man auf der 1838 von Louis Daguerre aufgenommenen Daguerreotypie, welche die Straßenansicht des Pariser Boulevard du Temple zeigt, zwar die ersten "fotografierten" Leute sehen, einen Schuhputzer und seinen Kunden. Aber der Straßenverkehr, die sich bewegenden Fußgänger sind verschwunden. Die unheimliche Ruhe auf diesem Stadtbild ist also nur Illusion.

Inzwischen sind wir bei Virtual Reality angelangt, können uns, mit 3-D-Brille und Datenhandschuh ausgestattet, auf den Motionsimulator begeben und unser blaues Wunder erleben, als bewegten wir uns in einer realen Landschaft. Von außen sehen solche Versuchspersonen in Aktion oft lustig aus. Doch sie selbst sind im Trügerischen vermeintlicher Echtheit so ge- und befangen, als gäbe es keinen Ausweg.

© SZ vom 08.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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