Ukrainisches Tagebuch (IV):Bomben auf Charkiw

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Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Dieser Text unserer Autorin in der Ukraine kam spät, wegen der russischen Bomben. Sie schrieb dennoch - über Wissenschaft, Schuld und Isolation.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Wenn ich meine Gefühle seit dem Kriegsbeginn sortieren und benennen würde, so wäre eines davon Schuldgefühl. Weil ich selbst an einem sicheren Ort bin. Weil ich das Leid von Millionen nicht lindern kann. Natürlich tue ich, wie so viele hier, was ich kann. Die Menschen, mit denen ich arbeite, ich selbst, wir tun, was unsere Kenntnisse, Fähigkeiten, ausländische Netzwerke und persönlichen finanziellen Möglichkeiten erlauben. Mit jedem Raketeneinschlag und jedem Brand danach spüre ich, wie in mir etwas ausbrennt, es ist keine Panik, keine Tränen, eher ein bisher so nicht gekanntes Mitleiden und trockener Hass.

Ich brauche mehrere Stunden, um mich zu entschließen, meinen Doktorvater nach der Familie seines Sohnes zu fragen, sie leben in Charkiw. Sie sind bisher verschont geblieben. Dutzende andere nicht. Anscheinend hat Putin einen besonderen Hass auf diese mehrheitlich russischsprachige Stadt, die sich ihm nicht beugen will und dafür im Stundentakt beschossen wird. "Verschätzt" und "fehlkalkuliert" - diese Worte bezüglich Putins Erwartungen vom "ukrainischen Blitzkrieg" fallen immer öfter, auch von russischen Experten und Politologen, deren Stimmen in Medien wie beispielsweise Echo Moskau zu hören sind. Wladimir Pastuchow, Mitarbeiter des University College London, erklärt sachlich, aber nicht ohne eine Prise Ironie, was "fünf strategische Fehler Putins und seine Hauptfolgen für Russland" sind. Wer Russisch kann, wird eine spannende Lektüre haben.

Ein Freund und Kollege aus Zhytomyr, M., ruft mehrfach an, er ist bei seinen Eltern im Dorf und versucht verzweifelt, sie und seinen Bruder zu überreden, nach Tscherniwzi zu fahren. Zhytomyr wurde bereits mehrfach beschossen. Und die Grenze zu einem anderen "Bruderland", Belarus, ist sehr nahe. Angeblich passierten die ersten belarussischen Truppen bereits die Grenze. Die Verwandten wollen auf keinen Fall weg, sie würden in Tscherniwzi nicht erwartet, er selbst würde doch an der Stelle eingezogen werden. M. hat sein Auto vor Kurzem verkauft, öffentliche Verkehrsmittel fahren nicht mehr. Er bittet mich, mit seiner Mutter zu sprechen, ich versichere ihr, dass wir hier - heute noch - eine recht gute Unterkunft hätten und dass für ihren Sohn keine Gefahr bestehe, zwangseingezogen zu werden, er könnte sich bei der lokalen Verteidigung einbringen. Ob sie mir glaubt, weiß ich nicht; sie habe nichts dagegen, wenn er fährt, aber sie und ihr Mann bleiben, wohin sollen sie mit der Kuh und anderen Haustieren? Es bleibt offen, ob M. sich entscheidet und, wenn ja, ob er es in die Bukowina schafft.

In der Maidan-Zeit haben die Partneruniversitäten in Russland nicht reagiert

Mich erreicht der sogenannte "Rundbrief der russischen Wissenschaftler und Journalisten gegen den Krieg in der Ukraine", darin steht unter anderem: " Durch die Entfesselung des Krieges hat sich Russland selbst zur internationalen Isolation, zur Position eines Pariastaates verurteilt. Das bedeutet, dass wir Wissenschaftler nicht mehr in der Lage sein werden, unsere Arbeit richtig zu machen: Wissenschaftliche Forschung ist ohne eine umfassende Zusammenarbeit mit Kollegen aus anderen Ländern nicht denkbar." Vermutlich haben sie recht. Da die Mail die Runde macht, sind auch ein paar Kommentare drin, in einem heißt es: "Sie riskieren viel damit!" Mein fieberhaft arbeitendes Gehirn gibt als die erste Antwort darauf: "Sie könnten doch die Adressen der nächsten Schutzräume googeln." Bissig-bitter, ich weiß.

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In der Maidan-Zeit 2013 bis 2014 haben wir im Namen der Universitätsleitung alle Partneruniversitäten in Russland angeschrieben, ein Dutzend etwa. Wir wollten ihnen erklären, was bei uns passiert und dass sich die Forderungen der Menschen in der Ukraine keinesfalls gegen Russland und Russen richten. Wir luden Lehrende und Studierende ein, zu uns zu kommen, damit sie sich selbst vergewissern können, dass hier keine "Bandera-Leute" mit Äxten und Sturmgewehren lauern, wie die russische Propaganda das darstellt, dass Russisch gesprochen und verstanden wird. Keine einzige Antwort haben wir bekommen, keine Nachfrage. Seitdem führt die Jurij-Fedkowytsch-Universität Tscherniwzi keine Kooperationen mehr mit russischen Institutionen. Jetzt bemühen wir uns um keine Erklärungsmails mehr, wir nehmen die Information über die sechs Partnerhochschulen in Belarus von der Webseite der Universität einfach herunter.

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