Ukrainisches Tagebuch (III):Hört jetzt endlich auf mit eurem Gefasel

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Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Es gibt schmerzliche Verluste. Aber wenn die Rumänen ihr Frühlingsfest als Helfer für Flüchtlinge begehen, ist das ein Hoffnungsschimmer: das ukrainische Tagebuch.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Ich schreibe diese Zeilen am frühen Morgen am 1.März, das Geschehen vom Vortag und der Nacht lässt mich innerlich noch mehr erstarren, diese Starre hilft aber durchzustehen, das Unerträgliche zu ertragen. Ich hätte "dem russischen Volk" nur noch eins zu sagen: Hört jetzt endlich auf mit eurem Gefasel, uns als Brüder zu bezeichnen. Lieber stehen wir in der Welt als Vollwaisen da. Und entscheiden selbst, mit wem wir Freundschaften schließen oder nicht. Die unabhängigen russischen Medien zeigen immer wieder Videos, in denen Russen in verschiedenen Städten gefragt werden, wie sie zum Krieg in der Ukraine stehen. Unterschiedlich, schon, wir sind doch ein "Brudervolk", aber nicht selten sind die Stimmen derer zu hören, die davon überzeugt sind: "Wladimir Wladimirowitsch wird schon wissen, was er macht."

Der Rektor einer privaten Partneruniversität aus Târgu Mureş in Rumänien wird auch schon wissen, was er macht, wenn er uns anbietet, bis zu 50 Frauen und Kinder im Gästehaus der Universität aufzunehmen. Er kommt persönlich zur Grenze, um sich einen Überblick zu verschaffen, etwas später wird der rumänische Bus nachkommen und die Gruppe auf der rumänischen Seite erwarten. Der Leiter des International Office S. und ich haben einen Tag, um alles vorzubereiten. Anrufen, Liste anlegen, uns um die Logistik kümmern. Viele Kolleginnen, die ich frage, lehnen das Angebot ab. Noch sind sie nicht bereit auszureisen. Denjenigen, die sich dafür entscheiden, erkläre ich, worauf sie gefasst sein müssen. Wir mieten einen großen Bus für die Gruppe, aber den letzten Teil der Strecke bis zum Grenzübergang müssen sie zu Fuß laufen. Acht Kilometer, vielleicht auch zehn Kilometer. Dann solle man dort warten, bis man dran ist, auf mehrere Stunden muss man sich einstellen. Man weiß nicht, wie die Situation sein wird. Letztendlich sind es 43 Personen. S. und ein paar andere Männer werden sie bis zur Grenze begleiten, dann fahren sie zurück. Am 1. März ist in Rumänien und Moldawien das Frühlingsfest, Mărţişor, heute werden viele aus diesen zwei Nachbarländern diesen Tag an der Grenze verbringen, sich um die ankommenden Flüchtlinge kümmernd. Vă mulțumesc foarte mult, dragi prieteni! (Vielen herzlichen Dank dafür, liebe Freunde!)

Das hat es in der Ukraine gegeben: Karrieren ohne jede Parteizugehörigkeit

Der gestrige Tag brachte sehr viele Verluste, aber einen für Tscherniwzi besonders schmerzhaften. Es geht nicht um jemanden, der im Krieg gefallen ist. Der 89-jährige Professor Oleh Pantschuk wurde kein Opfer eines unmittelbaren Kriegsgeschehens, und doch weiß ich im Moment, als ich davon erfahre, dass der Krieg ihn uns genommen hat. Einer der wenigen noch lebenden Alt-Czernowitzer, ein Polyglotter, Professor für anorganische Chemie, ein Nachfahr der berühmten bukowinischen Schriftstellerin Olha Kobylianska, einer, der in den 90er-Jahren die ukrainische nationale Bewegung stark mitgetragen hat und sein Leben lang kein Parteibuch hatte. Mein erster Chef. Natalia, seiner Tochter, mit der ich befreundet bin, drücke ich mein Beileid aus und wage nicht zu fragen, woran er starb. Aber ich weiß es: Pantschuk, der geistig voll da war und dem das Schicksal der Ukraine sehr am Herzen lag, konnte diesen Krieg gegen sein Land nicht mehr aushalten. Und sofort kommt mir ein zweiter Gedanke, der pervers klingen mag: Wie gut, dass mein Vater, der vor einem Monat starb, diese Apokalypse nicht mehr erleben muss. Mit Pantschuk hatte er gemeinsam, dass er es als Universitätsprofessor ebenfalls schaffte, Karriere zu machen, ohne sich in der Kommunistischen Partei einzureihen.

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Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Wir wissen noch nicht, was der heutige Tag und die kommenden Tage uns noch bringen werden. Schweren Herzens gehen wir all in diese Ungewissheit hinein. Eins jedoch beflügelt alle Bürger der Ukraine und gibt unglaublich viel Mut und Hoffnung: Wir stehen nicht als Vollwaisen da.

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