Ostdeutschland:Konsens im Sonnenuntergang

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Auf dem Festival "Kosmos Chemnitz" sucht die Stadt mit Stars wie Grönemeyer und Tocotronic nach sich selbst.

Von Ulrike Nimz

Es gibt sie, die guten Geschichten aus Chemnitz, nachzulesen in einer kürzlich erschienenen Anthologie. Anlässlich des 875. Stadtjubiläums waren Bürgerinnen und Bürger aufgerufen, ihre Heimat in Worte zu fassen. Entstanden sind Gedichte, Erinnerungen, Alltagsprosa, aufgeschrieben allesamt vor jener Nacht im August, als ein junger Mann am Rande des Chemnitzer Stadtfestes durch Messerstiche starb. In den Texten geht es um die 302 Meter hohen Schlot des Heizkraftwerks, den der Künstler Daniel Buren angemalt hat wie eine Zuckerstange. Es geht um die verheerende Zuganbindung, die sie hier längst persönlich nehmen. Es geht um Gassigehen im Zeisigwald, Döneressen im Plattenbaugebiet Fritz Heckert. Es geht um Verbundenheit, die entsteht, wenn etwas nicht immer schön aussieht, nicht immer glatt geht, nicht immer leicht ist. Das Buch ist eine Konserve Chemnitzer Normalität, daraus vorgelesen wird über den Dächern der Stadt, im Panoramarestaurant des 29-stöckigen Kongresshotels. Und natürlich ist nichts normal an diesem Tag. Weil unten im Zentrum 50 000 Menschen unterwegs sind, über die Kreuzung am Marx-Kopf tänzeln, obwohl die Ampel rot zeigt. Es ist "Kosmos Chemnitz", ein Festival organisiert von hiesigen Künstlern, Unternehmern, Veranstaltungsmanagern. Unter dem Motto "Wir bleiben mehr" soll an den Erfolg des Konzerts aus dem vergangenen Jahr angeschlossen werden. Damals war die Stadt noch in den Schlagzeilen und wund von rechtsextremen Ausschreitungen. Zehn Monate später gibt es nicht nur Grönemeyer, Tocotronic, Alligatoah auf großer Bühne, es wird diskutiert, gespielt und gelesen, an mehr als 40 Orten in der Chemnitzer Innenstadt.

In der ersten Etage des leer stehenden Modekaufhauses "Xquisit" sitzt Jan Kummer nebst vier Diskutanten auf dem Podium, Thema: "Bewegt was - Ohnmacht umdenken". Kummer ist bildender Künstler, war Sänger der Avantgarde-Band AG Geige, nach der Wende Plattenladenbesitzer, Clubbetreiber, hat das kulturelle Leben der Stadt nicht zuletzt durch Fortpflanzung bereichert: Zwei Söhne spielen in der Chemnitzer Band Kraftklub, zwei Töchter bei der Pop-Hoffnung Blond.

Die Unzufriedenheit wird an diesem Tag übertönt

Man habe, so Kummer, nach den Ereignissen im August diesen "Draht in die Populärkultur gnadenlos genutzt." In Zeiten, in denen Gewissheiten verloren gehen, gewinne Musik an Bedeutung. Das sei in der DDR so gewesen und auch jetzt, wo die AfD bei den Landtagswahlen im Herbst stärkste Kraft werden könnte. "Aussitzen, Raushalten ist keine Optionen mehr", sagt Kummer. Seine Heimatstadt beschreibt er als Ort vieler Wirklichkeiten: Da wird im Stadthallenpark Frisbee gespielt, und an der nächsten Straßenecke der Untergang Deutschlands beschworen.

Zeichen für eine friedliche, weltoffene Gesellschaft: Dirk von Lotzow von "Tocotronic". (Foto: Sebastian Willnow/dpa)

War das "Wir sind mehr"-Konzert im September 2018 die durchaus wutgetriebene Rückeroberung des öffentlichen Raumes, ist "Kosmos Chemnitz" versuchte Verstetigung. Längst nicht alle in Chemnitz sind überzeugt von dem Konzept, selbst in der Kulturszene nicht. Ein Strohfeuer sei das Festival, sagen Kritiker. Es produziere schöne Bilder, trage aber nicht zur Entpolarisierung der Stadt bei. Ein buntes Pflaster auf einem kaum verheilten Bruch.

Ei ne, die sich auskennen muss mit Versöhnung ist Dorothee Lücke, evangelische Pfarrerin. "Wie wollen wir leben in unserer Stadt?", ist die Frage, die sie den Chemnitzern stellen möchte, bei Wein und Wasser. Lücke stammt aus Marburg, ihr Ehemann aus dem Erzgebirge, seit 27 Jahren lebt sie im Osten. Noch immer ist ihre Herkunft Thema, sagt sie. Lücke wohnt im Zentrum an der Theaterstraße, der Mob marschierte und skandierte unter ihrem Fenster. Die Schrecken jener Augustnächte hätten ihren Predigten eine neue Dringlichkeit verliehen, sagt sie. Anderen fällt es noch schwer Worte zu finden. An den Stehtischen vor der Jakobikirche kommen die Gespräche nicht recht in Gang, viel Nippen und Schweigen. Eine Frau sagt, man höre viel Unsinn im Bus, aber widersprechen? Das sei doch verlorene Mühe.

Therese Morich hat es da einfacher, sie kann Musik sprechen lassen. Als Tereza legt sie in ganz Europa Platten auf, hat eine eigene Radio-Show und ein Mathematik-Diplom. An dem Tag, als Hooligans erstmals durch Chemnitz zogen, war sie zu Besuch in ihrer Heimatstadt, habe gespürt, dass etwas nicht stimmt, noch bevor das Handy vibrierte. Ihr Set heute, "das Bekenntnis zur Stadt", sei auch deshalb wichtig, weil sie selbst lange gefremdelt habe, mit der Enge, den begrenzten Möglichkeiten. "Die Dinge hier haben ein Ausmaß erreicht, dass mir Angst macht", sagt sie, und meint die Drohungen, den alltäglichen Rassismus. Der Trotz aber, die Bitterkeit vieler Ostdeutscher ist ihr nicht gänzlich fremd. Auf ihrem ersten Gig in Stuttgart habe man zu ihr gesagt: "Eine Frau und dann noch aus dem Osten - was soll das werden?" Eine internationale Karriere zum Beispiel. Vorhin im Taxi, sagt Morich, habe der Fahrer Deutschlandfunk Kultur gehört. "Als es um das Kosmos ging, hat er einfach ausgeschaltet."

Herbert Grönemeyer zieht eine Grenze: "Keinen Millimeter nach rechts."

Die Unzufriedenheit wird an diesem Tag übertönt. Vor dem "Alanya Kebab" wummert der Bass. Ein paar Wochen ist es her, dass sich Richter, Schöffen, ein Staatsanwalt aus dem Fenster des Dönerimbisses lehnten, um zu verstehen, was geschehen ist, am Morgen des 26. August, unter den Linden vor der Sparkasse. Der Tod Daniel H.s wird vor dem Landgericht Chemnitz aufgearbeitet. Noch immer sind viele Fragen offen, der Hauptverdächtige auf der Flucht. Am Tatort haben sie eine Gedenkplatte eingelassen, ein Peace-Zeichen ist eingraviert und der Name des Opfers. Eine Familie zündet ein Grablicht an. Was sie vom "Kosmos Chemnitz" halten? "Kein Kommentar".

Auch auf der Bühne in Chemnitz: Herbert Grönemeyer. (Foto: imago)

Die Sonne steht tief, als Herbert Grönemeyer die Bühne betritt und eine Grenze zieht: "keinen Millimeter nach rechts". Kameras fangen die schönen Bilder ein und man erinnert sich, wofür diese absurd breiten Chemnitzer Magistralen gebaut worden sind: zum Winken, Aufmarschieren, Strammstehen. Jetzt wird getanzt auf der Brückenstraße, und für eine knappe Stunde fühlt sich das Kosmos Chemnitz tatsächlich an wie Konsens Chemnitz. Im Pulk steht Barbara Ludwig, Grönemeyer-Fan und Oberbürgermeisterin, das ist die Reihenfolge an diesem Abend. Sie hält ihr leuchtendes Handy in die Luft, und die Stadt singt: Gib mir mein Herz zurück. "Es ist fantastisch, was Chemnitz heute geschafft hat", sagt Ludwig. Es ist, das hoffen die meisten hier, ein neues Kapitel.

© SZ vom 06.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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