Oper:Zur Freiheit bekehrt

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Der assyrische Diktator Nabucco (Dimitri Platanias, am Pult) singt im UN-Sicherheitsrat eine Rede. (Foto: Brinkhoff/Mögenburg)

Aus seinem Hausarrest in Moskau hat Kirill Serebrennikov jetzt Giuseppe Verdis "Nabucco" fulminant für Hamburg inszeniert.

Von Julia Spinola

Während des dritten Zwischenspiels der syrischen Musiker wird es einem Zuschauer zu viel. "Aufhören" donnert es in die zart gezupften Klänge der arabischen Oud-Laute. Eine Saaltür wird zugeknallt. Und noch Minuten später dringen verunsichernde Wutgeräusche aus dem Foyer in den leisen, melancholischen Ziergesang von Hana Alourbah und Abed Harsony. Auf einer Leinwand sieht man Fotografien des russischen Journalisten Sergey Ponomarev aus den Kriegsgebieten. Angstgeweitete Kinderaugen, die aus einer Aludecke herausblicken, Schwerverletzte, die auf blutbeschmierten Pritschen notdürftig versorgt werden, verzweifelte Mütter, gebrochene Männer und ringsherum nichts als Trümmer. "Das sehen wir doch schon in der Tagesschau", beschwert sich ein Zuschauer.

Ponomarevs Bilder gehen ebenso unter die Haut wie die unendliche Trauer, die aus den sehr verhaltenen, resignativen Liedern spricht. Das will nicht jeder aushalten. Schon gar nicht in der "Nabucco"-Premiere an der Hamburgischen Staatsoper.

Wenn der russische Theatermacher Kirill Serebrennikov sagt, dass Oper das Heute verhandeln müsse, weil man sonst "den ganzen Aufwand auch sein lassen" könne, dann ist das nicht die übliche Floskel, die bei uns jeder ernsthafte Regisseur für sich in Anspruch nehmen würde. Diese Überzeugung hat bei Serebrennikov, der aufgrund fadenscheiniger Vorwürfe seit 15 Monaten in seiner 32 Quadratmeter großen Moskauer Wohnung in Hausarrest sitzt, einen anderen Ernst. Hierzulande würden die Künstler zum Establishment gehören, so erklärte es Serebrennikov in einem Gespräch zehn Monate vor seiner Verhaftung. In Russland dagegen seien sie Helden, von denen man sich Katharsis und eine Auflehnung gegen die politisch drangsalierenden Verhältnisse erhoffe. Wie riskant das im Lande Putins ist, wusste Serebrenniko schon damals. Nun erfährt er es am eigenen Leib. Als zwar nicht dezidiert politischer, aber doch regimekritischer Künstler, als Homosexueller und als Jude ist er Teilen der russischen Regierung gleich ein dreifacher Dorn im Auge. Im November hat in Moskau ein Prozess wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Fördermittel gegen ihn begonnen.

Nabucco agiert als assyrischer Diktator an der Spitze einer reaktionären Einheitspartei.

Giuseppe Verdis Freiheitsoper "Nabucco" ist nach "Così fan tutte" in Zürich die zweite Inszenierung, die Serebrennikov, der weder telefonieren noch per Internet kommunizieren darf, aus der Ferne inszeniert. Und man staunt, was für ein lebendiges Bühnengeschehen man trotz der Distanz und des Umwegs über Videobotschaften, die per USB-Stick übermittelt werden, kreieren kann, mithilfe von Serebrennikovs Co-Regisseur Evgeny Kulagin und des Videokünstlers Ilya Shagalov.

Serebrennikovs Grundidee ist denkbar einfach und gibt keinerlei Rätsel auf. Nicht die Zerstörung Jerusalems und des ersten Exodus des jüdischen Volkes ist das Thema, hier spielt die Geschichte im UN-Sicherheitsrat, wo der Umgang mit den weltweit fast 60 Millionen Geflüchteten nach allen Regeln der polittechnokratischen Intrigenkunst verhandelt wird. Nabucco agiert als assyrischer Diktator an der Spitze einer reaktionären Einheitspartei, während Zaccaria sich als "Chefunterhändler des Gelobten Landes" für eine Welt ohne die Götzen der Nationalstaatlichkeit engagiert. Nachrichtenbilder flirren über große TV-Bildschirme, Schlagzeilen und Agenturmeldungen laufen als Leuchtschrift über die Wände des Sitzungssaals. Die Anhänger der assyrischen Einheitspartei schwenken ihre Fähnchen in den panarabischen Farben grün, rot, schwarz und weiß, während die blau-weiße Flagge Zaccarias von den Europa-Sternen geschmückt wird.

So simpel sich diese Analogie auf dem Papier auch ausnehmen mag, so eindringlich funktioniert sie in der detailreich ausgearbeiteten Umsetzung auf der Bühne. Serebrennikov rückt das Geschehen intensiv an unsere Wahrnehmung heran, indem er die Grenzlinie zwischen Fiktion und Realität zunehmend konsequenter ins Wanken bringt. Die zwischen den Akten auf der Vorderbühne vor verschlossenem Vorhang gesungenen arabischen Lieder zu den Fotografien Ponomarevs sind zunächst klar getrennt von der Opernhandlung. Mit dem berühmten Freiheitschor "Va pensiero" vermischen sich die Sphären. Der schwarz gekleidete Staatsopernchor tritt an die Rampe, um Verdis berühmtestes Stück in einem extrem gedehnten, beinahe traumatisch gelähmten Tempo anzustimmen. Der Effekt ist umwerfend. Ein aus Geflüchteten bestehender Projektchor der Hamburgischen Staatsoper mischt sich darunter. Später wiederholt der Projektchor alleine den zur Hymne des italienischen Risorgimento verklärten Gefangenenchor - eine neue Variante jenes vom Publikum eingeforderten "bis" der italienischen Aufführungstradition.

Und nicht nur das Orchester, sondern auch der Chor und sämtliche Solisten singen und spielen, als ginge es, wenn schon nicht um ihres, so doch um Serebrennikovs Leben.

Dirigent Paolo Carignani schlägt einen leidenschaftlich aufgewühlten Verdi-Ton an, der vom Orchester glänzend verwirklicht wird. Carignani reizt in zügigen Tempi alle Kontraste aus, die diese energetische Partitur bereithält, lässt einzelne Motive charakteristisch ausspielen und überhitzt das Geschehen immer wieder in dramatischen Klangentladungen. Und nicht nur das Orchester, sondern auch der Chor und sämtliche Solisten singen und spielen, als ginge es, wenn schon nicht um ihres, so doch um Serebrennikovs Leben: Dimitri Platanias bietet als Nabucco trotz seines in der Höhe ein wenig engem Bariton alles an Kraft und Wandlungsfähigkeit, was die Partie braucht. Alexander Vinogradov zeichnet mit melodiösem, kräftigen Bass den Zaccaria, Géraldine Chauvet ist eine hinreißende Fenena und Oksana Dyka verausgabt sich mit ihrem kräftigen Sopran in der Monsterpartie der machthungrigen Abigaille rückhaltlos bis zur Selbstaufgabe.

Am Ende sind in der Oper alle zur Freiheit bekehrt: Juden und Babylonier, Diktatoren und Freiheitskämpfer, Terroristen und Friedensaktivisten. Jubel für eine beeindruckende Premiere und den abwesenden Serebrennikov. Dessen Gesicht grüßt beim Applaus nur von den "Free Kirill"-T-Shirts des Produktionsteams herab.

© SZ vom 12.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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