Oper:Leben! Freiheit! Eleganz!

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Echter Wälzer: Der Chor in Barrie Koskys Inszenierung. (Foto: Gilles Abegg/Opéra de Dijon.)

Jean-Philippe Rameaus "Boréades" in Dijon - eine große Wiederentdeckung.

Von Reinhard J.Brembeck

Die Revolte ist hier Grundprinzip. Der jüngste der Götter, Amor, hat mal wieder mutwillig zwei Standardsterbliche miteinander verkuppelt und jetzt sorgt er auch noch dafür, dass Abaris und Alphise ihre Liebe gegen alle gesellschaftlichen und juristischen Widerstände durchsetzen. Jean-Philippe Rameau, der größte Opernkomponist des Spätbarocks neben Georg Friedrich Händel, hat dazu in "Les Boréades" (Die Sippe des Windgotts Borée) seine raffinierteste und komplizierteste Musik geschrieben, mit der sich das groß mit Holzbläsern, Hörnern, Schlagwerk und Streichern besetzte Orchester erstmals in der Musikgeschichte als eigenständiger und gleichberechtigter Partner der Sänger etabliert. Jede Ahnung, jede unerwartete Wendung, jede nur mögliche Lautmalerei, jeder Schmerz und jede Freude - alles wird durch dieses oft sich in vertracktester Virtuosität austobende Wunderorchester kommentiert, verstärkt, vertieft.

Rameau war 49 Jahre alt, als er seine erste Oper schreiben durfte, und er war 79, als die Proben zu den "Boréades" begannen. Es kam aber dann aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen zu keiner Aufführung. Das Stück wurde vergessen, erst John Eliot Gardiner entdeckte es in den 1970er-Jahren wieder und brachte es erstmals auf eine Bühne. Seitdem wird es, die Ansprüche an Sänger wie Orchester sind horrend und die Geschichte seltsam, nur gelegentlich aufgeführt. Jetzt kann man es in Dijon sehen, wo der Organist, Musiktheoretiker, Clavecin-Virtuose und Opernrevolutionär Rameau 1683 geboren wurde.

Die seit zwanzig Jahren in einem modernen 1600-Plätze-Haus spielende Opéra de Dijon hat keine Mühen und Kosten gescheut, um dieses heikle Meisterstück realisieren zu können. Deshalb wurden die "Boréades"-affine Dirigentin Emmanuelle Haïm samt dem Chor und dem Orchester ihres Concert d'Astrée genauso verpflichtet wie Barrie Kosky als Regisseur, der diese Arbeit nächstes Jahr an der Komischen Oper in Berlin zeigen wird, wo er Intendant ist.

Männern muss man immer sagen, was sie tun sollen. Da ist Abaris keine Ausnahme. Er liebt zwar die Königin Alphise, aber von sich aus die Initiative ergreifen? Fehlanzeige. Mathias Vidal singt die äußerst hohe Partie mit schmerzzerfurchtem Tenor, er ist am liebsten Leidender und Verzweifelter. Aber da müssen ihn schon Amor und sein Ziehvater Adamas immer wieder deutlich auf das Naheliegende hinweisen, damit er um seine Geliebte kämpft. Und schon stapft Abaris los, in den Händen Amors Pfeil, mit dem Kosky hier wie gewohnt musicalmäßig herrlichen Blödsinn treibt. Tapsig ist dieser Abaris und gerade deshalb umso liebenswerter.

Derweil wühlt sich das von Haïm wild aufgestachelte Orchester immer tiefer in die Verzweiflungen und Leidenschaften dieses Manns, die Klänge liefern psychoanalytische Kommentare, über 100 Jahre vor Sigmund Freud. Der aus der griechischen Mythologie stammende Plot ist ein Höhepunkt der Willkür. Die Königin von Baktrien, also Alphise, darf nur einen aus der Familie des Windgotts heiraten. Das Findelkind Abaris ist damit deklassiert. Die emanzipierte Alphise will aber nur ihn, verzichtet auf den Thron, wird vom Volk zu bleiben gezwungen und so fort. Hier werden konsequent gesellschaftliche und religiöse Normen und Herrschaftsstrukturen infrage gestellt. "Éclairer" (erhellen, aufklären) ist eine Lieblingsvokabel des Librettos. Die Französische Revolution ist nah.

Doch Kosky interessiert sich keinen Deut für die politischen und gesellschaftlichen Momente des Stücks. Ihm genügt die Liebe, und die inszeniert er leicht und in all ihren Spielarten. Katrin Lea Tag hat ihm einen weißen hohlen Kasten auf die Bühne gestellt, der immer wieder in die Höhe fährt und ein Spielfeld für die von drei Männern umworbene und zunehmend verzweifelte Alphise freigibt. Man wälzt sich herum, tobt, schmachtet. Hélène Guilmette bleibt als Alphise immer stolz, ganz egal ob sie verzweifelt ist oder staatsfraulich entschlossen.

Am schönsten aber an diesem Abend der eleganten Wunder ist die von Yacnoy Abreu angeführte und von Otto Pichler choreografierte Truppe von drei Tänzerinnen und drei Tänzern. Die hampeln und trippeln die vielen Volkstänze Rameaus genauso wie sie sich in den wundervoll singenden Chor einreihen, um ihn zum Tanzen der sich zunehmend gegen jede Willkürherrschaft gerichteten Gesänge zu verführen. Da kommt der Abend ganz zu sich, da ist er ein lustvolles Bekenntnis zum Leben in Freiheit. Rameau wäre damit vollauf einverstanden.

© SZ vom 28.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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