Oper:Der Herrgott ist kein Vegetarier

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Tcherniakov und Castellucci inszenieren Berlioz' "Les Troyens" und Scarlattis "Il primo omicidio" in Paris.

Von Reinhard J. Brembeck

Als in der Bastille-Oper, der vor 30 Jahren eröffneten zweiten Spielstätte der Pariser Opéra, der Vorhang nach Hector Berlioz' Monsteroper "Les Troyens" fällt und schließlich der Regisseur Dmitri Tcherniakov vors Publikum tritt, wird er mit einem Buhgejohle begrüßt, das fast an die Ablehnungstsunamis erinnert, die Frank Castorf 2013 nach seinem Bayreuther "Ring" entgegenschlugen.

Teile des Publikums sind außer sich. Besonders der Mann neben mir. Erregt skandiert er seine Buhs im höchsten Falsett, dann schreit er "Au bûcher!" (Auf den Scheiterhaufen), um, schon ein wenig erschöpft, seine Buh-Rufe in der Baritonlage fortzusetzen. Das ist ganz großes Theater. Verwundert drehen sich andere Zuschauer nach ihm um, fragen, wer mein vermeintlicher Begleiter sei. Ich kenne ihn nicht. Aber was ist da so schiefgegangen, dass ein Regisseur einen derartigen Hass auf sich zu ziehen vermag?

Am Tag davor geht es sehr viel gesitteter zu im Palais Garnier, der ersten Spielstätte der Pariser Opéra. Dort haben der Dirigent René Jacobs und der Regisseur Romeo Castellucci das recht unbekannte und musikalisch wie szenisch versöhnliche Oratorium "Il primo omicidio" (Der erste Mord, gemeint ist die Kain-und-Abel-Geschichte) von Alessandro Scarlatti aufgeführt, und der Beifall ist einhellig. Alle sind glücklich.

An beiden Abenden geht es um Verrat, Schande und Mord in der Familie

Hoch über der Bühne prangt eine Zahl: "1669". Das ist nicht das Jahr, in dem das vor Luxusdekors überbordende Palais Garnier eröffnet wurde, das war erst 1875, sondern das Jahr, in dem die Académie d'Opéra en musique gegründet wurde, die heutige Nationaloper. Ihr Zweck war, eine französische Oper gegen die übermächtige italienische zu etablieren. Sehr bald schon riss Jean-Baptiste Lully, ein aus Italien zugewanderter Komponist, die Leitung dieser Institution an sich und schuf die französische Nationaloper. Umso verwunderlicher, dass das 350-jährige Jubiläum dieser urfranzösischen Einrichtung jetzt mit einem italienischen Oratorium gefeiert wird.

Doch zurück in die Bastille-Oper. Berlioz, dieser erste große Revolutionär unter den romantischen Komponisten, war fasziniert von der "Æneis" des Vergil und machte daraus eine Vier-Stunden-Oper, die erst den Fall Trojas und dann die tragische Liebesgeschichte zwischen Dido und Aeneas in Karthago erzählt. Das Stück ist derart personenreich und unhandlich, dass es erst vor 70 Jahren an einem Abend gezeigt wurde. Es waren vor allem die englischen Dirigenten Thomas Beecham und Colin Davis, die es durchgesetzt haben.

Der Trojanische Krieg ist für den Regisseur und Ausstatter Dmitri Tcherniakov ein heutiger Balkankonflikt. Eine korrupte alte Männeroffizierselite treibt das Volk in ein sinnloses Gemetzel, die Betonschluchten der Stadt sind zusammengeschossen und ausgebombt. Aber die Elite ist untereinander uneins. Der oberste Heeresführer Priamos ist senil und unbelehrbar. Dagegen begehrt zuallererst seine Tochter Kassandra auf. Stéphanie d'Oustrac im ockergelben Hosenanzug ist gelassen stolz gegen alles, was von der alten Männerriege um ihren Vater kommt, sie ist keins der angepassten Weibchen wie ihre Mutter Hécube oder die Schwägerin Andromaque, die Witwe des Helden Hektor.

In einem Video zu den „Trojanern“ von Hector Berlioz deutet Regisseur Dmitri Tcherniakov an, dass Kassandra von ihrem Vater missbraucht wurde. (Foto: Vincent Pontet)

In einer kurzen Videoeinspielung deutet Tcherniakov die Möglichkeit eines Missbrauchs an der Tochter durch den Vater an. Wie auch immer, Kassandra ist emanzipiert, sie versucht, das kommende Unheil abzuwenden, niemand glaubt ihr, aber selbst beim finalen Selbstmord forciert Stéphanie d'Oustrac nie ihre tiefe, dunkle Stimme. Sie bleibt bis zuletzt menschlich, melancholisch zwar, aber hellsichtig und gelassen. Das ist das überragende Menschenporträt dieser beiden Jubiläumsfeierabende.

Auch Aeneas ist unzufrieden. Tcherniakov zeichnet diesen bei Vergil und Berlioz bis zur Fadheit unbescholtenen Helden als eiskalten Karrieristen. Er will an die Macht, er will sich von Priamos abnabeln, einen Neuanfang in Italien machen - und deshalb verrät dieser Mann seine Leute an die Griechen. Kaum sind die aus dem Trojanischen Pferd gekrochen, begrüßt er sie per Handschlag. Sein Frau bringt sich um, schreibt (wieder auf Video eingeblendet), dass sie seinen Verrat an ihr zwar ertrage, nicht aber die damit verbundene Schande. Brandon Jovanovich singt den Aeneas laut, direkt heraus und ohne Geheimnisse.

In Scarlattis Oratorium geht es, passend zur "Trojaner"-Welt, ebenfalls um Verrat und Mord in der Familie. Adam, Eva, Kain und Abel: Romeo Castellucci zeigt das recht harmlos als Idylle, die erst zu bröckeln beginnt, als der Herrgott aus undurchsichtigen Gründen Abel bevorzugt, dessen Fleischopfer annimmt, die vegetarischen Gaben Kains aber verschmäht.

René Jacobs hat das Stück ausgegraben und vor 20 Jahren auf CD eingespielt. Damals sang er, dieser wundervolle Countertenor, die Stimme des Herrn. Jetzt hat der 72-Jährige diese Rolle Benno Schachtner übertragen, der die Ferne und Fremdheit Gottes schon durch das ungewöhnliche Timbre seiner Stimme betont: sehr konzentriert, schmal, fast trompetenhaft, dennoch melancholisch und jenseitig hell - sehr ähnlich der Stimme von René Jacobs himself.

Das Karthago von heute: ein Therapiezentrum für traumatisierte Kriegsopfer

Trotz großer Sängerleistungen und obwohl mit Tcherniakov und Castellucci die beiden derzeit stärksten Opernregisseure antreten, gehören die beiden Abende den Dirigenten. Jacobs lässt sich völlig auf die unspektakuläre Klangwelt Scarlattis ein, der fern aller Operneffekte dem Hörer trotz des Brudermords Hoffnung und Trost spenden will. Und für die leider um eine halbe Stunde gekürzten "Trojaner" (es sind aber noch immer dreieinhalb Stunden Musik) findet der Pariser Musikdirektor Philippe Jordan, der nächstes Jahr als Musikchef der Wiener Staatsoper antritt, einen herrlich mürben Grundton, der sich wundervoll mit dieser Partitur verträgt, die zwar gelegentlich große Ausbrüche und riesige, oft tänzerisch aufgelockerte Chortableaus kennt, aber doch die Melancholie und die Klagen der beiden zentralen Frauengestalten Kassandra und Dido ins Zentrum stellt.

Die jeweils zweiten Teile von "Trojaner" wie "Primo omicidio" nutzen die Regisseure dann für ästhetische Umbrüche und Neubestimmungen. Castellucci, wie Tcherniakov sein eigener Bühnen- und Kostümbildner, zeigt sich hier nicht als Revolutionär und Bühnenerneuerer, sondern als kreuzbraver Katholik. Er atmet mit Scarlattis besänftigender Musik, er gibt den Einflüsterungen des Teufels und des Bösen nicht mehr Raum als das orthodoxe Libretto. Und er folgt dessen versöhnender Zukunftsvision.

Den Kindern gehört in Romeo Castelluccis Inszenierung des „Primo omicidio“ von Alessandro Scarlatti die Welt – auch wenn sie die Morde und Schandtaten ihrer Vorgängergenerationen einfach nur naiv nachspielen. (Foto: Bernd Uhlig)

Da Adam und Eva beide Söhne verloren haben, bitten sie um weitere Kinder. Castellucci erfüllt mehr als willig diesen Kinderwunsch. In einem Feld treten statt der jetzt im Orchestergraben agierenden Sänger Kinder in den Kostümen von Adam, Eva, Kain und Abel auf, die diese Rollen spielen und den Gesang stumm markieren.

Diese Doppelung ist durchaus rätselhaft. Die Jugend, das ist natürlich Zukunft und Hoffnung. Indem die Kinder aber ganz einfach in die Kostüme und Verhaltensweisen der Erwachsenen schlüpfen, deutet Castellucci an, dass das Morden und Verraten von Generation zu Generation weitergehen wird, dass es keinen Frieden geben wird, keine Versöhnung, kein Happy End. Dieser Blick auf die Menschheit ist bitter und desillusioniert, auch wenn sie Castellucci in nazarenerhaft-harmlose Bilder kleidet, in denen seine Botschaft verpufft.

Tcherniakov lässt den Dido-Teil der "Troyens" dann nicht in Karthago spielen, sondern in einem modernen Therapiezentrum für traumatisierte Kriegsopfer. Ist das da nicht die älter gewordene Kassandra? Hat sie vielleicht doch ihren Selbstmord überlebt? Die am schlimmsten traumatisierte Insassin trägt das gleiche Ockergelb wie zuvor Kassandra, sie hält sich für die karthagische Herrscherin Dido und wird zwischen Zerbrechlichkeit, Zerbrochensein und Aufbegehren gesungen von Ekaterina Semenchuk.

Die Klinikleitung weiß sich mit ihr keinen Rat mehr und greift zu einem letzten Mittel. Aeneas wird einbestellt, in der Hoffnung, dass er sie aus ihrem Wahn befreien könnte. Doch dieses Experiment geht gründlich schief. Dido verliebt sich in Aeneas, dem wird immer unbehaglicher zumute, und zuletzt verrät er sie wieder. Schließlich muss und wird er in Italien Karriere machen. Dido (oder ist es doch Kassandra? - Tcherniakov lässt die Zuschauer darüber im Zweifel) begeht Selbstmord.

Das ist nicht das, was bei Berlioz steht. Aber es macht dieses oft recht affirmative Stück interessanter und besser, es rettet den Aeneas, obwohl der Regisseur aus einem makellosen Helden einen gewissenlosen Schuft macht. Ist das wirklich so verwerflich, dass Tcherniakov derartig angefeindet und niedergebuht werden muss?

© SZ vom 01.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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