Oper:Der Ernste

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Der "Tristan" von Kirill Petrenko (hier ein Foto von 2019) ist keine Utopie, sondern ein So-geht-es-auch. Wenn vielleicht auch nur in der Musik. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Kirill Petrenko dirigiert Smetanas "Má vlast" in München und zeigt, dass die Orchesterstücke weit über einen Abriss der tschechischen Geschichte hinausgehen.

Von Reinhard J. Brembeck

Heimat und Vaterland sind Reizbegriffe, die gern von den erstarkenden Nationalisten ge- und missbraucht werden. Der Romantiker Bedřich Smetana hat in den 1870er Jahren sechs Orchesterstücke unter dem Titel "Má vlast" komponiert, die zentrale Momente der tschechischen Geschichte beschwören: den Verlauf der Moldau im berühmtesten der Stücke, die mystische Burg Vyšehrad, die Legende der Liebesmörderin Šárka, die Idyllen des ländlichen Böhmens, zuletzt die Hussitenkriege.

"Má vlast" ist aber nicht nur ein historischer Abriss der tschechischen Geschichte, sondern auch der singuläre Versuch, Physiognomie, Träume und Sehnsüchte eines Volkes und einer Landschaft nur mit Tönen einzufangen. Weshalb das ganze Projekt auch sehr viel weniger nationalistisch daherkommt als es der Titel und die Inhaltsangaben vermuten lassen. Denn alle musikalischen Nationalismen, das gilt für Manuel de Falla genauso wie für Béla Bartók, Modest Moussorgsky, Hector Berlioz, George Enescu, Richard Strauss und eben auch Smetana, wurzeln in ihrem Urvater Ludwig van Beethoven, einem gebürtigen Bonner mit niederländischen Migrationshintergrund, der früh nach Wien übersiedelte. Musikalische Heimat, das lehrt das Beispiel Beethoven, ist also immer international. Erst recht, wenn Kirill Petrenko mit "Má vlast" am Pult des Bayerischen Staatsopernorchesters steht: ein in Omsk geborener russischer Jude, der in Österreich ausgebildet wurde und seine Karriere in Deutschland gemacht hat.

Petrenko hat ein Faible für romantisch weit ausgreifende Musik, deren Raffinessen, Machart und Vielschichtigkeit er bewundernswert akribisch in Klang verwandelt. Je tragischer eine Musik ist, umso lieber ist ihm das. Und Smetana ist oft tragisch, düster, orakelnd, mystisch. Aber immer wieder streut er dann Folklore ein, harmlos schlichte Tänze und Gesänge. Manchmal entdeckt Petrenko darin groteske Überzeichnungen. Doch immer bleibt er der strenge Kapellmeister, der alles kontrolliert und seinem Willen unterordnet. Entspannt los- und zulassen, sich und anderen Freiheiten einräumen, Grauzonen, Ungenauigkeiten und Schlampereien akzeptieren: Das hat in Petrenkos Welt (noch?) keinen Platz. Da war Smetana weiser und weiter. Dem Komponisten war eine Blume genauso ans Herz gewachsen wie ein Heldenschicksal, ein Krug Bier so lieb wie ein Mythos, und eine Fuge nicht wertvoller als ein Frühlingslied. Doch Petrenko ahnt das und versucht zunehmend diese ihm bisher unzugänglichen Gebiete in seinem Vaterland der Musik ebenfalls zu erobern.

© SZ vom 04.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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