Omri Boehm: "Radikaler Universalismus":Die einzig wahre Autorität

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Omri Boehm entwarf die Utopie einer "Republik Haifa", in der Juden und Palästinenser friedlich zusammenleben - und glaubt auch nach dem Hamas-Terror noch an die Notwendigkeit einer politischen Lösung. (Foto: Marzena Skubatz)

Der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm verteidigt den Universalismus - gegen Identitätspolitik und selbstgerechte liberale Demokraten. Kann das gutgehen?

Von Jens-Christian Rabe

Gerade jetzt eine große Verteidigung des Universalismus zu schreiben, erscheint so zwingend wie waghalsig. Zwingend, weil die Idee ja theoretisch immer noch gut ist, waghalsig, weil die Defizite der Ordnungen, die sich auf den Universalismus berufen, so offen zutage liegen. Viele Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund erleben Tag für Tag, dass vieles eben doch nicht so universal gilt, sondern uneingeschränkt höchstens für die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaften. Man übertreibt nicht, wenn man feststellt, dass damit nicht weniger als die Grundfesten der liberal-demokratischen westlichen Ordnung infrage stehen.

Gewagt hat die Verteidigung jetzt der 1979 geborene deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm, der an der renommierten New Yorker New School for Social Research lehrt. Bekannt wurde er vor gut zwei Jahren mit seinem Buch "Israel - eine Utopie", in dem er zur Lösung des Israel-Palästina-Konflikts einen föderalen, binationalen Staat Israel vorschlug, eine "Republik Haifa". Sein neues Buch, das gerade einmal 155 Seiten hat, trägt den Titel "Radikaler Universalismus - Jenseits von Identität". Das - man ahnt es -, was in westlichen liberalen Demokratien unter Universalismus verstanden wird, ist für Omri Boehm bloß noch die "leere Hülse des Begriffs".

Liberale und identitäre Linke feiern gemeinsam die "Zerstörung des Begriffs der Menschheit"

Die Liberalen samt ihren berühmtesten Theoretikern von John Dewey und John Rawls bis Richard Rorty und Mark Lilla huldigten einem "falschen", nur auf individuelle Rechte fixierten Universalismus, der in Wahrheit nur ihren eigenen Interessen diente. Die "identitäre Linke" wiederum habe mit diesem falschen Universalismus mehr gemein, als sie sich eingestehen würde. Mit ihrem partikularistischen Fokus auf Identität betreibe sie auf ihre eigene Weise die "Zerstörung des Begriffs der Menschheit".

Dagegen setzt Boehm das, was er den "wahren Universalismus" nennt, den er in drei schwungvollen Kapiteln aus drei berühmten Quellen der Ideengeschichte destilliert: erstens der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Diskussion über Sklaverei und Bürgerrechte der Afroamerikaner; zweitens aus Kants Schriften, insbesondere dem Aufsatz "Was ist Aufklärung?" (die Ideen des Philosophen verteidigt Boehm leidenschaftlich gegen dessen jüngst viel thematisierten rassistischen Äußerungen); und drittens aus der Erzählung von der Opferung Isaaks im 1. Buch Mose im Alten Testament.

Am dritten und kürzesten Kapitel des Buch lässt sich gut zeigen, worum es Boehm genau geht. Es beginnt mit Kants berühmter Antwort auf die Frage "Was ist Aufklärung?": "Aufklärung", schrieb Kant 1784, "ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", Unmündigkeit wiederum ist für Kant "das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen". Böhm aber will es noch einmal ganz genau wissen: Was soll das eigentlich heißen, "sich seines Verstandes zu bedienen"? Mit der ersten, negativistischen Antwort Kants, dass selbst denken eben vor allem bedeute, seine Gedanken nicht irgendeiner Autorität zu unterwerfen, ist es für Boehm nicht getan.

"Satzungen und Formeln", so Kant, "sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit"

Die Definition Kants, auf die es Boehm eher ankommt, läuft darauf raus, dass die schädlichste Form der Unmündigkeit nicht einfach Nichtdenken oder das Delegieren des eigenen Denkens ist, sondern eine Denkweise, "bei der wir unseren Verstand auf tote oder mechanische Weise" gebrauchen: "Satzungen und Formeln", so Kant, "sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit."

In Bezug auf die Frage, was dies nun für Boehms Rechtfertigung seines radikalen Universalismus bedeutet, wird es dann allerdings wieder heikler. Denn Boehm schließt sich Kants Überzeugung an, dass Aufklärung und Selbstdenken dieser anspruchsvollen Art - angesichts der Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit - doch wieder erst durch einige wenige erreicht werden muss, deren Beispiel dann gefolgt werden kann. Das aber, Boehm sieht es sofort, ist nichts anderes als eine Form von Prophetie, die Vermittlung von Wahrheit durch Auserwählte. Und war und ist das nicht genau die Art von Kommunikation, die die Aufklärung gerade überwinden wollte?

Omri Boehm: Radikaler Universalismus - Jenseits von Identität. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Propyläen Verlag, Berlin 2022. 155 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Was nun? Boehm versucht eine neue Definition dessen, was wir unter Prophetie verstehen sollten. Motto: Wenn die Begriffe nicht passen, haben wir sie bisher nur falsch verstanden. Nach einer schwungvollen Lektüre des Dekalogs und der Geschichte von Abrahams Opferung seines Sohnes Isaak (Genesis 22, 1-19) sowie von Maimonides' Interpretation der beiden Bibelstellen in seinem Buch "Führer der Unschlüssigen" steht für Boehm fest: Die höchste Form der Prophetie ist nicht die von Mose, der den Menschen einfach Gottes Gesetz verkündet, sondern die Abrahams.

Die übliche Deutung der Opferung Isaaks geht von einem frommen Abraham aus, der bereit ist, seinen Sohn zu opfern und dann von einem Engel aufgehalten wird. Soll heißen: Der Wille ist Gott genug, die grausame Tat ist nicht nötig. Boehm betont dagegen textkritisch, dass die Engelstelle später hinzugefügt wurde. Lässt man sie weg, trifft nicht mehr Gott die Entscheidung, Isaak am Leben zu lassen und stattdessen einen Widder zu opfern, sondern Abraham selbst. Für Boehm gehorcht er an dieser Stelle einer moralischen Autorität, die noch über Gott steht: der Gerechtigkeit.

Das Beharren darauf, so Boehm, "dass die Gerechtigkeit jede Autorität übersteigt", sei Abrahams ganz eigene Neuerung

Das Beharren darauf, so Boehm, "dass die Gerechtigkeit jede Autorität übersteigt", sei Abrahams ganz eigene Neuerung. Mithin bestehe die wesentliche Behauptung und entscheidende geistige Innovation des ethischen Monotheismus auch nicht darin, dass es nur eine einzige wahre Gottheit gebe, sondern eben darin, dass "selbst diese einzig wahre Gottheit dem Moralgesetz unterworfen" sei. Anders gesagt: Die Bibel hat mit Boehm eine universelle Idee des Menschen als einem Wesen, das für das "absolute Gesetz" offen ist, für das es aber keinen Gott mehr braucht, nicht mal nur einen einzigen. Man muss nicht gläubig sein, um das für erstaunlich zu halten.

Trotzdem bleibt auch dem wohlwollenden Leser der Eindruck, dass das Buch höchstens nur ein halbes ist. Der Versuch, originell und mutig gegen den grassierenden Partikularismus - die dunkle Seite der Identitätspolitik ­- zu argumentieren, ist ehrenwert und nötig. Eine so stichfeste Begründung für den "radikalen Universalismus", wie Böhm zu liefern vorgibt, gelingt ihm aber leider nicht.

Der Vorrang der Wahrheit vor der Demokratie rede Fanatikern das Wort, bemerkten Kritiker

Die (stark von Kant inspirierte) Idee, einer metaphysischen, vollkommenen Idee von Gerechtigkeit in uns und über uns allen ist sehr schön, bleibt letztlich aber doch einen Hauch zu nebulös. Und ein klassischer Fehlschluss von einem Sollen auf ein Müssen. Man könnte umgekehrt einwenden: Merkwürdig aufwendige Systeme wie Glauben, Religion oder der Rechtsstaat hat man sich gerade deshalb ausgedacht, um Gerechtigkeit ethisch plausibler und faktisch zwingender erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich ist!

Eher säkular-soziologisch gestimmte Kritiker haben Boehm entsprechend vorgeworfen, mit der Rechtfertigung eines Vorrangs der Wahrheit vor der Demokratie dem Fanatismus das Wort zu reden. Immerhin implizit in Kauf nimmt er ihn, kein Zweifel. Im Auftrag der wahren Gerechtigkeit muss in Boehms Logik alles erlaubt sein. Andererseits ist philosophisches Denken nun einmal nicht so intersubjektiv orientiert wie soziologisches.

Vor allem aber gerät aus dieser Perspektive ein interessanter und zeitdiagnostisch relevanter Impuls des Buchs völlig aus dem Blick: Boehm will gegenüber dem Recht die Pflichten wieder stärker machen, die Menschen haben. Dabei will er allerdings weder - das ist ihm zu konservativ - traditionalistisch argumentieren noch liberal-demokratisch. Westliche liberale Demokratien sind für ihn - hier ist er sich mit identitären Linken einig - "für immer auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet".

Sein radikaler Universalismus soll ein ganz anderer Weg sein, ein neuer alter guter Grund für Gerechtigkeit. Und die einzige nicht-nihilistische Möglichkeit, die Gegensätze, die entstehen, wenn alle auf ihre Identitäten bestehen und die andere Seite dann nur noch "gecancelt" sehen wollen, aufzulösen. In seinem Kern ist das so scharfsinnige und temperamentvolle Buch, mit dem sich Boehm zwischen alle Stühle setzt, vor allem der zutiefst humanistisch motivierte Versuch, die Menschen ideell wieder auf die "absolute Liebe zur Menschheit" zu verpflichten, indem es daran erinnert, wie alt dieser Gedanke ist. Das ist - theoretisch jedenfalls - das Gegenteil von Fanatismus. Aber natürlich auch halsbrecherisch schwärmerisch.

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